O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Von empfindsam bis extrem anspruchsvoll

MĂCELARU DIRIGIERT MAHLER
(Diverse Komponisten)

Besuch am
5. Februar 2021
(Premiere)

 

WDR-Sinfonieorchester in der Philharmonie, Köln

Vor der Kölner Philharmonie kommt man sich vor wie in einer Geisterstadt. Wo sonst Menschen vom Museum Ludwig herunterstapfen, die Leute nach Hause eilen, Paare in die Gastronomie strömen oder Touristen auf dem Weg in die Altstadt sind: nichts. Eine menschenleere Straße. Vereinzelt treffen Musiker ein, die gleich ihren Auftritt haben und im Gebäude verschwinden. Der Sicherheitsdienst lässt sich gut gelaunt sehen. An diesem Abend findet ein Konzert statt, das nie gekannte Publikumszahlen erreichen wird, ohne dass auch nur ein Besucher den Saal betreten wird. Das nämlich ist streng verboten. In einer längst abebbenden zweiten Pandemie-Welle bleiben die Konzerthäuser aufgrund von Regierungsverfügungen geschlossen, obwohl die Wissenschaft nachgewiesen hat, dass ein Infektionsrisiko gegen Null geht.

Immerhin darf das WDR-Sinfonieorchester spielen. Rund 47 Musiker versammeln sich in der Kölner Philharmonie, um das Programm Măcelaru dirigiert Mahler aufzuführen. Was ein bisschen dröge klingt, hat es in sich. Gleich zu Beginn wartet das Orchester mit dem viersätzigen Walzer für Streichorchester auf, den Arnold Schönberg als Zeitgenosse Gustav Mahlers komponierte. Ein weitgehend unbekanntes Werk, mit dem Cristian Măcelaru, Chefdirigent des Orchesters, der für die Programmauswahl verantwortlich zeichnet, gleich zu Beginn überrascht.  Der wunderbare Klang entfaltet sich in der bekannt wohlklingenden Akustik des Saals. Die Einstimmung ist perfekt, auch wenn der Saal leer bleibt. Eines gewissen Unbehagens mag man sich nicht erwehren, wenn sich Dirigent und Orchester vor dem leeren Saal verbeugen. Gewiss, sie bedanken sich vor den fünf bis sechs Kameras, die der Westdeutsche Rundfunk positioniert hat, um das Konzert aufzuzeichnen, das an diesem Abend zeitgleich im Hörfunk übertragen und erst am folgenden Tag als Livestream auf der Website der Sinfoniker gezeigt wird. Es bleibt gespenstisch. Aber die Faszination überwiegt.

Cristian Măcelaru – Foto © O-Ton

Der nächste Höhepunkt wartet schon. Die gerade mal fünf Jahre jüngere Alma Mahler-Werfel fügte sich in ihr Rollenverständnis – zu Beginn des 20. Jahrhunderts! – was beinahe dazu geführt hätte, dass ihre Werke als Komponistin vollständig untergegangen wären. So gilt heute vieles als verschollen, aber ihre Fünf Lieder sind dank ihres Ehemanns Mahler erhalten geblieben. Die Bearbeitung für Alt und Orchester stammt von Jorma Panula, und selbst die musste vom WDR-Sinfonieorchester erst vom Arrangeur erworben werden, weil sie nicht verlegt wurde. Eine weitere Rarität also, zu der die Altistin Wiebke Lehmkuhl eingeladen wurde. Im Saal tut man sich mit ihrer Textverständlichkeit, mit der sie die fünf Lieder vorträgt, schwer und hofft, dass die Tontechniker in der Rundfunkübertragung ausgleichen können.

Gustav Mahler wird nachgesagt, dass man das Lied als die Keimzelle seiner Sinfonien betrachten kann. Zur Einstimmung spielt das Orchester den vierten Satz, das Adagietto, aus der Sinfonie Nummer fünf, ehe es zu dem großen Werk Des Knaben Wunderhorn geht. Sechs Lieder gibt es. Ablösung im Sommer, Starke Einbildungskraft und Selbstgefühl werden in Bearbeitungen für Sopran und Orchester von Detlef Glanert vorgestellt. Dazu ist Christina Landshamer eingeladen, die hier schon mal einen Vorgeschmack auf das Kommende gibt. Noch nicht ganz angekommen, kann sie mit Lehmkuhl mithalten, wird sich selbst aber im nächsten Stück übertreffen. Verlorne Müh, Wer hat dies Liedlein erdacht und Rheinlegendchen vervollständigen die Lieder des heutigen Abends.

Mit Alexander von Zemlinsky, einem der Lehrer Alma Mahlers, schließt sich der „Mahler-Kreis“ um das Lied. Das Waldgespräch, einer Ballade für Sopran, zwei Hörner – die hier wirklich solistisch glänzen – Harfe und Streichorchester bietet sich für Landshamer die Gelegenheit, in den schönsten Farben ihrer Stimme zu glänzen. Und sie hat sich in die Situation eingefunden, so dass sie wahrhaft brillieren kann.

Christina Landshamer – Foto © O-Ton

Schönbergs Kammersinfonie Nr. 1, Opus 9, für 15 Solo-Instrumente fordert das Orchester, das bis dahin überwiegend in Empfindsamkeit schwelgen durfte, wobei es ihm gelingt, alle Zwischentöne des Pianos zu erfassen, noch einmal intensiv. Hier ist größte Konzentration gefragt und Măcelaru hat alle Hände voll zu tun, sein „Team“ – der Eindruck entsteht – durch die kniffligen Anforderungen der Partitur zu führen. Dass Schönberg inzwischen viel zu selten zu hören ist, grenzt an eine überflüssige Bemerkung, darf aber angesichts dieser formvollendeten Darbietung noch einmal erwähnt werden.

Schön, ein ausgezeichnetes Orchester wieder einmal aus der Nähe zu erleben, die natürlich Illusion ist. Denn in Reihe 17 ist Schluss mit der Annäherung. Aber Măcelaru hat hier ein Programm ausgewählt, das seinesgleichen sucht. Und da ist es gut, dass das Publikum, das die Live-Übertragung verpasst hat, noch einmal Gelegenheit bekommt, das Konzert in ein paar Tagen noch einmal im „Konzertplayer“ der Radiowelle WDR 3 oder als Video on Demand auf der Website des Sinfonieorchesters anzuhören respektive anzuschauen. Dann haben auch die Tontechniker und die Bildexperten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks noch einmal Hand angelegt. So dass sich der Genuss bei entsprechender heimischer technischer Ausstattung noch einmal deutlich erhöhen dürfte.

Und es mag sich ein jeder seine eigenen Gedanken machen, dass es auf der besagten Website noch zahlreiche weitere Höhepunkte des Konzertwesens zu finden gibt. Das sollte man sich eigentlich nicht entgehen lassen – haben wir schließlich alles schon bezahlt. Dass damit andere Musikgruppen möglicherweise verdrängt werden, wird immerhin durch die großartige Leistung dieses Abends mindestens ein wenig aufgewogen.

Michael S. Zerban