Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
DIE LEGENDE VOM HEILIGEN TRINKER
(Joseph Roth)
Besuch am
20. Juli 2021
(Einmalige Aufführung)
Atelier Mobile – Travelin‘ Theatre, Open-Air-Spielstätte am Weidenweg, Köln
Jens Kuklik ist überglücklich, fast schon euphorisch. Ohne es zu wissen, hat er zu seinem Open-Air-Programm auf den Poller Wiesen Seelenverwandte eingeladen. Zwei Stunden vor der Aufführung der Anruf. „Jens, bist Du mutig?“ Seine Antwort eindeutig wie einsilbig. „Mutig.“ Die Medien werden nicht müde, Gewitter und Starkregen im Rheinland für den Abend anzukündigen. Kuklik, Künstlerischer Leiter von Atelier mobile – Travellin‘ Theatre, ist das Wetter leidlich egal. Diese Aufführung muss stattfinden! Am Morgen hat er noch nach Anweisungen des Gastensembles ein Stück Rasen mähen lassen, damit dort die Aufführung stattfinden kann. Mit der vorhandenen Bühne ist die Truppe unzufrieden, weil das Licht an der gewünschten Stelle besser sei. Und überhaupt braucht das Ton und Kirschen Wandertheater keine Bühne. Das Ensemble ist seit 30 Jahren autark. Die Darsteller installieren ihre mitgebrachte Bühne und Tribüne nach eigenen Angaben „auf historischen Plätzen, aber auch mitten im Dorf oder sogar auf Äckern“.
Wenn das Ensemble nicht auf Tour ist, lebt es in Werder an der Havel, das ist in Brandenburg, in einer Bauwagen-Kolonie an einem Teich. Und wenn es dann zu einem Spielort anreist, reicht ein Lastkraftwagen. Der steht auf den Poller Wiesen gleich neben der Bühne von Daisy Watkiss. An einem Gestell sind drei um die eigene Achse schwenkbare Metallgitter angebracht, die entweder die Rückwand darstellen oder blitzschnell in Spielorte wie ein Hotel, eine Bahnhofsstation, eine Kirche oder ein Bordell umgebaut werden können. Bei einem Blick hinter diese Wand fühlt man sich auf einen Trödelmarkt versetzt. Die zahlreichen Accessoires, die zum Einsatz kommen werden, scheinen allesamt mindestens 50 Jahre alt zu sein. Die Bühne wird halbkreisförmig von Sitzbänken in verschiedenen Höhen umrahmt, dahinter ist die analoge Technik aufgebaut, die eher museal wirkt, aber dank durchdachter Aufstellung der Lautsprecher ein quadrofones Klangfeld ermöglicht. Da wird sich mancher Zuschauer irritiert umschauen, wenn die Kirchenglocken aus der Nachbarschaft erklingen, weil es hier im weiten Umkreis eigentlich keine Kirche gibt.
In diesem Umfeld erzählt das Ensemble aus sieben Nationen die „Wundergeschichte“, die Joseph Roth 1939 innerhalb von vier Monaten im Pariser Exil verfasste. Die Legende vom heiligen Trinker sollte die letzte Erzählung und damit so etwas wie ein Testament des Dichters und Journalisten werden, der selbst dem Alkohol bis zu seinem Tode übermäßig zusprach. Der Clochard Andreas Kartak trifft auf einen fremden Herrn, der ihm 200 Francs leiht mit der Bedingung, das Geld der heiligen Therese von Lisieux in der Kapelle Ste-Marie des Batignolles zurückzugeben. Damit beginnt für Kartak eine Zeit der kleinen Wunder und wundersamen Begegnungen, ehe es heißt „Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und schönen Tod!“
2020 führte das Ton und Kirschen Wandertheater das selbst adaptierte gleichnamige Stück zum ersten Mal in Potsdam auf und verzaubert seither die Menschen immer wieder mit einem Theater, das man eigentlich nur aus Filmen kennt und von dem man sich wünscht, es endlich einmal selbst zu erleben. Drei Generationen sind hier auf der Bühne, angefangen mit der Künstlerischen Leiterin Margarete Biereye und dem Co-Regisseur David Johnston, bis zur bezaubernd jungen Zina Méziat. Biereye, man darf es wohl verraten, ist 77 Jahre jung und verfügt über eine Ausstrahlung, die ihr sowohl die Rolle der Erzählerin, der Ex-Geliebten von Andreas als auch die des Freudenmädchens erlaubt. Es ist der Glanz ihrer Augen, der alles andere vergessen lässt. Insbesondere die Männer, allen voran Johnston, Francesco Bifano, Nelson Leon und Regis Gergouin, letzterer übernimmt auch gleich noch die Technik, sind in mehreren Rollen für die wunderbar komödiantischen Einlagen zuständig. Eigentlich selbstverständlich, dass sie auch noch Musikeinlagen mit Gitarre, Trompete und Kastagnetten beisteuern, wenn nicht gerade die Technik kurze Stücke einspielt, um das französische Flair zu unterstreichen. Méziat ist überwiegend als Zuspielerin beschäftigt, hat aber ihren großen Auftritt als Tänzerin Therese, noch eines dieser Wunder, die Andreas begegnen – und so wirkt sie auch. Wenn die heilige Therese Andreas im Traum erscheint, wird die Puppe von Daisy Watkiss geführt. Bei all den ungewöhnlichen Ereignissen in kurzer Folge weiß Andreas nicht recht, ob ihn das freuen soll. Schließlich ist er von seinem Auftrag beseelt, das Geld in der Kirche abzuliefern. Und so legt ihn Rob Wyn Jones als Zweifler an, als jemanden, der nicht glauben mag, was ihm da alles widerfährt. Köstlich.
Mit einem wahren Feuerwerk an Einfällen ziehen die Schauspieler das Publikum immer gerade so weit in ihren Bann, dass den Besuchern noch genügend Platz für die eigene Fantasie bleibt. Und da darf man all das, was einen ins Theater treibt: Ein wenig träumen, melancholisch werden, Hoffnung schöpfen und mal leise lächeln, aber oft auch herzlich lachen. Zum Beispiel, wenn Andreas‘ Ex beim gemeinsamen Dinner lakonisch feststellt: „Jetzt regnet es“. Längst schon hat sich da der Himmel verfinstert, weht eine frische Brise über den Platz, als der erwartete Regen kommt. Der entpuppt sich allerdings statt des angekündigten Gewitters als Wolkenbruch, dem die Schauspieltruppe gelassen begegnet. Für einen Moment wird das herrliche Spiel unterbrochen, die Zuschauer flüchten unter ein Zeltdach, während das Ensemble alles in Sicherheit bringt, was nicht nass werden darf. Nach dieser kleinen naturromantischen Einlage, die ja irgendwie zu einer Sommerveranstaltung unter freiem Himmel dazugehört, geht es erfrischt wieder ans Werk.
Nach gut anderthalb Stunden nehmen die erschöpften, aber glücklichen Schauspieler einen frenetischen Jubel entgegen, der einen Abend magischen Zaubers und natürlich vieler Wunder feiert. Bereits in der Nacht wird alles, was zum wunderbaren Gelingen des Abends beigetragen hat, im Lkw verstaut sein, damit das Wandertheater am kommenden Tag weiterziehen kann. Sein Aufenthalt in den Rheinwiesen allerdings wird lange unvergessen bleiben.
Michael S. Zerban