O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Die Bilder bieten nur eine Anmutung der besuchten Aufführung - Foto © Herand Müller-Scholtes

Aktuelle Aufführungen

Poetischer denn je

FRACTURA
(Bibiana Jiménez)

Besuch am
16. März 2023
(Premiere am 3. Juli 2020)

 

Orangerie-Theater, Köln

Fast hätten wir’s schon wieder vergessen. Die Theater, die sich selbst zu ideologischen „Woke“-Basen erklären, warnen ja neuerdings davor, sie zu besuchen. „Triggerwarnungen“ nennen sie das. Eine feine Erfindung. Ohne verstehen zu müssen, was eine Triggerwarnung ist, erfährt man hier schon im Vorfeld, warum man vom Besuch einer Aufführung Abstand nehmen sollte. Für diesen Abend ist die Aussage eindeutig: „Es werden seelische und körperliche Verletzungen gezeigt.“ Dass hier nur äußerst halbherzig gewarnt wird, sollte einen nachdenklich stimmen. Denn tatsächlich kommt es auch zum Einsatz von Theaternebel und zu ohrenbetäubender Lautstärke. Hätten die 15 verbliebenen Besucher dieses Abends das im Vorfeld gewusst, hätten sie womöglich auch die Chance gehabt, zu Hause zu bleiben.

Stattdessen müssen sie nun heldenhaft die Aufführung überstehen. Belohnt werden sie mit Tanztheater, das wie Wein gereift ist und sich nun in hoher Vollendung präsentiert. Produziert wurde das Werk von Andrea Bleikamp und Rosi Ulrich, die gemeinsam das Theaterkollektiv Wehr 51 darstellen. Die Uraufführung musste pandemiebedingt verschoben werden, stattdessen gab es eine Verfilmung im Internet. Die später nachgeholte Premiere im Kölner Orangerie-Theater fand ebenfalls unter Pandemie-Bedingungen statt. Jetzt also gibt es endlich die „richtige“ Aufführung von Fractura, einem Tanz-Solo von Bibiana Jiménez.

Längst hat sich Jiménez einen herausragenden Ruf als Tänzerin und Choreografin erarbeitet. Während sie regelmäßig vielbeachtete, neue Choreografien erarbeitet, werden ihre Auftritte als Tänzerin seltener und damit kostbarer. Geboren ist sie im kolumbianischen Bogotá. Nach einem Psychologie-Studium widmete sie sich ganz ihrer Tanzausbildung. Zum Jahrtausendwechsel kam sie nach Deutschland, wo sie als Tänzerin, Schauspielerin und schließlich als Choreografin wirkt. 2015 gründete sie ihre eigene Compagnie, die seit 2018 unter dem Namen XXTanzTheater Bibiana Jiménez firmiert. Wer sie treffen will, muss bei den vielen Tanzaufführungen im Rheinland nur Ausschau nach einer elegant gekleideten, attraktiven Frau Ausschau halten, die sich gern ein wenig im Hintergrund hält. Ihr großes Thema ist die Frau im sozialen Umfeld. Sie deshalb als Feministin zu bezeichnen, wäre sicher falsch. Vielmehr scheint ihr die Choreografie von Fractura auf die Haut geschrieben zu sein. Eine Tänzerin, die aus Südamerika nach Europa emigriert und sich mit all den Brüchen, Verletzungen und privaten Enttäuschungen auseinandersetzen muss, die zu diesem Leben gehören. Sara Blasco Gutiérrez wirkte an der Choreografie mit.

Foto © Herand Müller-Scholte

In der räumlichen Enge der ersten Aufführungen standen die Rahmenbedingungen und die körperliche Leistung im Vordergrund. Da gab es im Zentrum der Bühne die Gartenlaube, aus der heraus sie agierte. Rechts und links die Schneiderbüsten, in Plastiktüten eingepackt, manche auf Stativen aufgestellt. Claus Stump und Paula Noller haben das Bühnenbild entwickelt. Jens Standke war dabei für die Videos zuständig, die sich unter die Live-Malereien von Katarina Caspersen mischten. Die Musik reicht von sphärischen Klängen bis zu konkreten Liedern von Klangwart, von piano bis ohrenbetäubend. Darunter mischen sich die Stimmen von fünf Frauen, die den Werdegang der Tänzerin in verschiedenen Sprachen in einer kunstvollen Erzählung wiedergeben. Der Aufwand für ein Tanzsolo ist enorm, für eine Tänzerin auf dem Niveau von Jiménez allerdings vollkommen angebracht. Hier kann sie wie ein Käfer auf Händen und Füßen kriechen, sich immer wieder zurückziehen, sich ganz dem Tanz mit Krücken und dem Spitzentanz widmen. Das alles ist aus den früheren Aufführungen bekannt und war schon in der Enge und Konzentration äußerst eindrucksvoll.

Jetzt allerdings steht ihr die volle Größe des Raums zur Verfügung. Die ehemaligen Live-Zeichnungen treten in den Hintergrund. Auch die Erzählungen verlieren an Bedeutung. Und: Jiménez kann sich ausleben, eine weitere Dimension hinzufügen. Was einer Mary Wigman nur bedingt gelang, lebt sie nun voll und ganz aus. Da schleicht sich eine Poesie ein, die alles bisher Gezeigte weit übertrifft. Wo vorher, vielleicht auch nur in der persönlichen Wahrnehmung, die Geschichte im Vordergrund stand, gelingt Jiménez nun in der tänzerischen Darstellung viel mehr, die Betroffenheit vom Schicksal der Tänzerin zu erzählen, als es Stimmen, Videos und Farben können. Und während sie mit der Krücke am Kopf abtritt, hat sie sich nicht nur in die Herzen, sondern auch unter die Haut der Besucher getanzt.

Wenn es der neuen Leitung des Orangerie-Theaters, Sarah Youssef, gelingt, nicht nur vor dem Besuch einer ihrer Veranstaltungen zu warnen, sondern auch noch dafür zu sorgen, dass der Eindruck entsteht, dass in ihrem Haus irgendetwas stattfindet, was nicht nur für Eingeweihte bestimmt ist, weil das Anwesen auch bei einer Veranstaltung wie tot da liegt, finden vielleicht doch noch mehr Besucher den Weg zum Rand des Volksgartens. Verdient hätte es nicht nur das Theater, sondern vor allem die Aufführung von Fractura, die am 17. März noch einmal wiederholt wird.

Michael S. Zerban