O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Holger Talinski

Aktuelle Aufführungen

Ende einer Ära

FOCUS: PETER EÖTVÖS
(Diverse Komponisten)

Besuch am
29. September 2023
(Einmalige Aufführung)

 

WDR-Funkhaus, Klaus-von-Bismarck-Saal, Köln

Zuerst das Positive. Wovon es eine Menge gibt. Angefangen bei Peter Eötvös, um den das erste Musik-der-Zeit-Konzert der laufenden Saison herumgebaut ist. Musik der Zeit, diese ehrwürdige Reihe, die im ehrwürdigen Klaus-von-Bismarck-Saal vor gefühlten Urzeiten an den Start gegangen ist. Mit einem allerehrwürdigsten Komponisten als Inaugurationsdirigenten, mit Igor Strawinsky. Das ist lange her. Aber auch die Geschichte, die Eötvös mit dem Westdeutschen Rundfunk im Allgemeinen, mit seinem famosen Sinfonieorchester im Besonderen verbindet, auch diese Geschichte beginnt, als etliche Besucher des heutigen Abends noch gar nicht auf der Welt sind, weswegen sie an dieser Stelle rekapituliert sei. Nicht jeder mag ja mit dem Namen, mit der Erscheinung Peter Eötvös in seiner Doppelnatur, Komponist und Dirigent zu sein, so vertraut sein, wie es das Kölner Konzertpublikum ohne Zweifel ist; und zwar nach seinen beiden Teilmengen, der großen klassischen wie der kleinen, aber feinen zeitgenössischen.

Wenn ein Musik-der-Zeit-Konzert Focus: Peter Eötvös heißt, wenn drei von fünf Stücken Eötvös-Kompositionen sind, wenn sie gerahmt werden von Arbeiten eines 97-jährigen György Kurtag, eines legendären Karlheinz Stockhausen, dann hat das Gründe. Patrick Hahn als neuer WDR-3-Redakteur für zeitgenössische Musik und damit verantwortlich für die wichtigste Konzertreihe des Senders, braucht dafür nur einen Blick ins WDR-Schallarchiv zu werfen, um festzustellen, dass die Arbeitsgemein­schaft von WDR, Peter Eötvös und dem WDR-Sinfonieorchester seit 1968 mit „über 200 Einträgen, davon 14 Uraufführungen“ gelistet ist. Nur, wie hat sie angefangen, diese AG?

Gergely Madaras – Foto © Holger Talinski

Eigentlich wie ein Traum. Da ist dieser junge Student an der Franz-Liszt-Musikakademie im fernen Budapest, ein Sechzehnjähriger, der genervt ist von einer politischen Führung, die ihr Volk klein halten, es behüten will, namentlich vor den verderblichen Einflüssen des Kapitalismus, was wiederum für einen jungen Wilden erst recht Ansporn ist. Was tun? Eötvös macht, was alle machen, besorgt sich auf anderen Wegen, was es offiziell nicht gibt, nicht geben darf. Noten zum Beispiel. Und Eötvös hört Radio. Die langen Wellen kennen keine Grenzen. Der Erstkontakt fällt ins Jahr 1960. Wieder einmal steht in Köln eine Stockhausen-Uraufführung an, für die ein West­deutscher Rundfunk im Großen Sendesaal, nachma­ls Klaus-von-Bismarck-Saal, seine Mikrofone positioniert. Und wieder einmal geht es um eine stockhausen­typische Versuchs­anordnung, ein Klangkontinuum aus live gespielter Instrumental­- und vierkanalig abgespielter Tonbandmusik: Kontakte für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug.

Noch Jahre später, wenn Eötvös von seinem Radioerlebnis erzählt, spürt man die Faszination. Er habe sich einfach nicht vorstellen können, erzählt er, dass „so etwas möglich“ sei. Damit ist der Keim gelegt, der Entschluss gefasst. 1966 wird die Sache konkret. Als Student des Deutschen Akademischen Austauschdienstes kommt Eötvös nach Köln. Und das Schicksal meint es weiter gut mit ihm. Am Schwarzen Brett der Musikhochschule eine Stellen­ausschreibung. Stockhausen sucht einen Assistenten. Eötvös meldet sich, wird einbestellt, wird eingestellt, macht sich unentbehrlich und wird von der fantastischen Karriere Stockhausens mitgerissen, mitgetragen, kommt 1970 mit dem Ensemble des Meisters nach Osaka, wo im dortigen Expo-Kugelauditorium täglich an die sechs Stunden Stockhausen-Musik vorgeführt und ein Mythos begründet wird. Ein traumhafter Anfang, zu dem dann bald auch das Dirigieren, das Komponieren hinzukommt. Eine Musikerpersönlichkeit betritt die Bühnen, die Podien, und zwar auf der ganzen Welt.

Und jetzt also dieses Musik-der-Zeit-Konzert. Ausgehändigt wird ein Programmheft. Auf der Umschlagseite der junge Eötvös im WDR-Studio für Elektronische Musik. Innen plötzlich ein besonderer, ein persönlicher Tonfall. Man liest und ist elektrisiert, gleich zwei Mal. „Sehr verehrte Damen und Herren, es tut mir leid, dass ich heute krankheitsbedingt nicht mit ihnen hier zusammen sein kann. Seit Monaten plane ich ein Konzert, mit dem ich mich von diesem Funkhaus und von diesem Sendesaal verabschieden kann.“ Nach beinahe 60 Jahren der intensivsten Zweierbeziehung, geht eine Ära zu Ende – ohne die Hauptperson am Pult.

Timothy Ridout (rechts) – Foto © Holger Talinski

Ihn vertritt an diesem Abend Eötvös‘ Landsmann Gergely Madaras. Ein Riesenpensum Musik, das Madaras mit wunderschönen Klang- und strikten Schlaghänden meistert. Eindrucksvoll insbesondere bei den höllisch schweren KONTRA-PUNKTEN für zehn Instrumente von Stockhausen, eine nach allen Parametern seriell organisierte Musik, von den WDR-Sinfonikern mit bezaubernder, serenaden­hafter Leichtigkeit musiziert. Von der Serialität, also von dem Glauben, Zusammenhang stiften zu können durch maximale Organisation von Zusammenhanglosem, von „Punkten“, wie es Stockhausen formulierte, ist man heute Lichtjahre entfernt. Gerade die Eötvös-Stücke demonstrieren es. Über weite Strecken Anleihen bei Spätromantischem, flächig in den Streichern, was in einem Siren’s Song, einem „Sirenen-Gesang für Orchester“ fast filmmusikalisch wirkt. Das Anfangsstück Ligetidyll für Kammerorchester verlangt theatralische Zugaben. Musiker müssen aufstehen, sich verbeugen, in den Konzertsaal rufen. Solche Sachen. Der Unwille spürbar. Das Ganze eher gefällig.

Bewegend an diesem Farewell-Abend das Bratschenkonzert Respond. Timothy Ridout, ein junger englischer Solist, sendet seine nie abreißenden Klagegesänge ins Orchester, das Eötvös wie einen Resonanzraum ausstattet, geschärft mit Akzenten, scharfen Bläsereinwürfen, dumpfen Schlägen auf der großen Trommel. Ungarisches Erbe. Verarbeitet wird ein tragischer Verlust, den Eötvös erlitten hat. Man spürt die Betroffenheit und geht in der Gewissheit, dass Musik, dass Kunst etwas zu tun haben muss mit Existenz, mit dem, was wir brauchen, erhoffen, erleiden, also mit Leben und Tod. Ein Abschiedskonzert, das nachdenklich macht, das sich verbindet mit den besten Wünschen auf baldige Genesung.

Georg Beck