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Wenn eine Produktion fertig ist – egal, ob Tanz, Theater oder Konzertprogramm – muss sie auf die Bühne. Sonst fühlt es sich nicht richtig an. Es ist keine Seltenheit, dass ein Choreograf von Beginn der Recherche bis zur Premiere zwei Jahre seines Lebens in eine Tanzproduktion investiert. Da sagt man nach der Generalprobe nicht einfach: Prima, Leute, das war’s, dann packen wir es jetzt in die Schublade.
Also gibt es in den Kölner Ehrenfeldstudios eine „Premiere“ – mit vier Gästen. Alle vier sind aus beruflichen Gründen da, es ist also kein echtes Publikum, aber es sitzt immerhin jemand in den Stuhlreihen des großen Saals, der eher wie ein Hochsicherheitstrakt anmutet. Die Zuschauer werden eigens mit Spezialmasken versorgt, zwei Entkeimungsgeräte sorgen dafür, dass sich keine Aerosolansammlungen bilden können und so weiter und so fort. Immerhin hat sich bei allen Beteiligten so etwas wie Routine eingestellt, so dass diese Maßnahmen nicht mehr im Vordergrund stehen.
Vielmehr geht es um Fette Kette. Das ist die neueste Produktion von Barbara Fuchs. 2003 hat die Choreografin ihr Label Tanzfuchs Produktion gegründet, sich seit 2009 auf junges Publikum kapriziert und sieht ihre Arbeit heute als verbindendes Glied zwischen den Generationen und Kulturen. Genre-Grenzen mag die Choreografin nicht so gern. Wenn Tanz nur mit Musik funktioniert, muss eben welche her. Und ein Gespür für ungewöhnlich gewöhnliche Requisiten wie Papier oder Eimer hat sich schon in der Vergangenheit zu fantasievollen Produktionen entwickelt. Hinter dem schönen Titel Fette Kette verbirgt sich die Auseinandersetzung mit dem, wie Fuchs sagt, ältesten Kulturgut des Abendlandes: dem Reigen. Und so lautet der Untertitel auch „ein Tanzreigen für alle ab fünf Jahren“.
Auf der Bühne ist viel Platz. Ein paar Boxen sind links und rechts aufgebaut. Nach vorne begrenzt wird die Fläche von ein paar glänzenden Kapuzenanoraks, unter denen sich, wie sich später herausstellen wird, Zithern befinden. Für die Kostüme zeichnet Stefanie Bold verantwortlich. Aber auch hier wieder wenig Originalität, wenn man vom Einfall mit den Jacken und den Flip-Flops absieht. Kostümbildner in der so genannten Freien Tanzszene scheinen entweder der Normalität verpflichtet oder frei von Fantasie. Eine weitere Zither ist am vorderen rechten Bühnenrand auf einem kleinen Tisch platziert und wird ebenfalls erst später zum Einsatz kommen. Odile Foehl, Katharina Sim, Alina Feske, Arthur Schopa, Michael Zier und Philine Herrlein haben sich im Hintergrund im Kreis aufgestellt. Es wird der Ausgangspunkt einer aufregenden Reise.
Denn Fuchs, die selbst die Technik bedient, hat sich durch so ziemlich alle erdenklichen Formen des Reigens durchgearbeitet, die so im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind. Eine solche Choreografie zu erarbeiten, ist allein schon preisverdächtig. Aber was die Darsteller leisten, übersteigt den Einfallsreichtum noch einmal in der körperlichen Leistung. Hier folgt eine Bewegung in Abhängigkeit von der anderen. Egal, ob die Gruppe sich in der Kette bewegt, verbunden durch verschiedene Handkontakte, in Kreisen Figuren herstellt oder Drehungen und Tanzschritte beginnt, die so manche Tanzschule gern für ihre Tanzschüler aufgriffe: Es muss jeder Handgriff, jede Bewegung sitzen, weil sonst die Kette durcheinander geriete. 40 Minuten Griff für Griff, Schritt für Schritt, Wendung für Wendung zu verinnerlichen ist etwas anderes, als in einer „freien“ Aufführung mal eben schnell zu improvisieren, weil man einen schlechten Tag oder so was hat. Und hier zeigt sich, dass der Premierenzustand erreicht ist. Kleinere Ungenauigkeiten können ausgeglichen werden, und so entsteht ein Gesamteindruck von Perfektion, der eindrucksvoll ist.
Das macht sich auch in der Klangkulisse bemerkbar. Wie üblich, setzt Fuchs hier wieder auf die bewährte Zusammenarbeit mit dem Kölner Komponisten Jörg Ritzenhoff. Und der wechselt beständig zwischen den Klängen, die auf der Bühne erzeugt werden – man weiß nicht, was einem besser gefällt: der Klang der Zithern oder die Geräusche, die die Darsteller mit ihren Körpern auf der Bühne erzeugen – und einfachen, aber eindrucksvollen Rhythmus-Geräuschen, die von der Festplatte eingespielt werden. Nach 40 Minuten gibt es unter den Gästen kaum einen, der sich nicht davon hat mitreißen lassen.
Der Reigen als wiederzuentdeckende Tanzform: Da könnte Barbara Fuchs mit ihrem neuen Stück bei entsprechender Öffentlichkeit glatt Maßstäbe setzen, auch wenn die Tanzschulen im Lande das immer mal wieder als sinnstiftende Gemeinschaftsaufgabe in ihren Kursen, wenn auch in wesentlich vereinfachter Form, anbieten. Derzeit gibt es diese Öffentlichkeit nicht. Und die ambitionierten Terminpläne der Choreografin, im Februar mit einer Premiere auch ein breiteres Publikum zu erreichen, scheinen angesichts der aktuellen Lage eher Wunsch als Plan. Immerhin freuen die Darsteller sich, an diesem Nachmittag Anspielpartner gehabt zu haben. Das ist ihnen anzusehen. Mit dem Gedanken, dass es schön sein könnte, mal wieder selbst einen Reigen mitzutanzen, mischt sich ein bisschen Wehmut in den Abschied von den Ehrenfeldstudios für dieses Jahr.
Michael S. Zerban