O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Anleitung zum Unglücklichsein

ELEONORE
(Oxana Omelchuk, Gordon Kampe, Vincent von Schlippenbach)

Besuch am
25. September 2020
(Uraufführung)

 

Carlswerk Victoria, Köln

Statte eine freie Musiktheaterproduktion mal richtig mit Geld aus und schau, was passiert. Im Beethoven-Jahr ist so etwas möglich, und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Zum Beispiel heute Abend als Uraufführung im Carlswerk Victoria, einer Fabrikhalle auf dem ehemaligen Werksgelände von Felten & Guillaume in Köln, auf dem sich eine Häuserreihe weiter auch die Dauerersatzspielstätte des Schauspiels Köln befindet. Eigentlich dient die Halle als Örtlichkeit für Feiern aller Art, aber Partys sind in pandemischen Zeiten gerade nicht so angesagt.

Also kann man in die luftige Halle eine zweite, große Bühne einbauen, ein paar Stuhlreihen aufstellen, um ziemlich wenig Besucher für eine so aufwändige Produktion einzulassen. Allein Planung, Auf- und Abbau der Bühne mit Unterboden und Podesten sowie Lichteinrichtung dürfte so ziemlich jedes übliche Budget in der sogenannten Freien Szene sprengen. Man darf also erwarten, dass sich in diesem Spielraum Besonderes ereignet.

Marie-Audrey Schatz – Foto © Bettina Stöß

Das Team um Regisseurin Frauke Meyer und Dirigentin Susanne Blumenthal hat sich dazu so einiges einfallen lassen. Die Grundidee war, die Oper Fidelio von Ludwig van Beethoven als „Befreiungsoper“ neu zu befragen. Ist das Erreichen persönlichen Glücks tatsächlich die höchste Form menschlicher Freiheit? Oder hilft nicht viel eher das Unglücklichsein mit den Zwängen, in denen wir leben, diese aufzubrechen und so zu einer größeren Freiheit zu gelangen? Und was, wenn sich eine heutige Eleonore aus einem Kerker der Systemzwänge vulgo gesellschaftlichen Erwartungshaltungen einschließlich der perfekten Beziehung zu einem Mann befreien wollte? Charlotte Roos hat auf Grundlage dieser Fragen ein Libretto verfasst, dass an einem einfachen handwerklichen Fehler scheitert. Weil eine Übertitelung fehlt, bekommt das Publikum in anderthalb Stunden nur einige wenige Textfetzen zu verstehen. Das reicht nicht für das Verständnis des Geschehens. Dabei drängt sich der weiße Unterrahmen des Balkons oberhalb der Bühne geradezu auf, ein Laufband einzurichten. Das ist besonders ärgerlich, weil ansonsten an diesem Abend eigentlich vieles richtig gemacht ist. Uta Materne hat die Bühne mit einfachen, aber wirkungsvollen Mitteln eingerichtet. Auch wenn das Mobiliar eher so wirkt, als sei es aus sozialen Kaufhäusern zusammengetragen, ist es so zweckmäßig wie selbsterklärend. Besonderes „Schmuckstück“ ist ein pinkfarbener, übermannshoher Halbmond in der Mitte der Bühne, der von Wattetupfen umgeben ist und auch zunächst im Mittelpunkt der Handlungen steht. Weil der Kerker ins Innere des Personals verlegt ist, bleibt auf der Bühne Platz für die Alltagssituationen. Etwa der Spielplatz des Helden, ein Garderobenspiegel, übersät mit Bildern von Ernesto Che Guevara, und ein fahrbarer Garderobenständer. Das Büro des Direktors besteht aus einem „Chefsessel“ und einem Rudergerät. Und dann gibt es für den Vater respektive Kandidaten noch eine Essecke, die sich wunderbar für stereotype Wiederholungen eignet. Auch sonst hält diese Bühne noch einige Überraschungen bereit, die den Fortgang der Handlung unterstützen. Materne hat auch die fantasievollen Kostüme entworfen, die bei den Damen zusätzliche Zwecke erfüllen müssen. In diesem Umfeld führt Meyer die Personen.

Die Hauptperson Eleonore verharrt zu oft in der Außenseiter- oder Beobachterrolle. Ja, gewiss, ihr Innenleben. Aber das beschaut sie in einer abgelegenen Ecke des Raums, in dem auf künstlichem Rasen noch ein Tipi aufgebaut ist. Da gerät man schnell aus dem Blickfeld, zumal Nico Kraeima sich in seinem Lichtdesign auf das absolut Notwendigste beschränkt. Die meiste Zeit sind die Akteure mit Pseudo-Beschäftigungen auf der Bühne unterwegs, bis es zu ihrem eher kurzen Einsatz kommt. Meyer nutzt die Gelegenheit, um die Stereotypien ihres Alltags aufzuzeigen. So bleibt das Geschehen meist im Fluss.

Die Darsteller zeigen sich dabei durchweg engagiert. Maja Lange ist meist gedanklich brütend oder beobachtend unterwegs. Wenn sie stimmlich auftrumpfen darf, gleitet sie sehr rasch in Höhen, in denen sie nicht zu verstehen ist. Weil die Rolle es ihr erlaubt, darf sich Marie-Audrey Schatz als Tochter sehr viel spielfreudiger zeigen. Die Gelegenheit nimmt sie gern wahr, aber auch sie bleibt weitgehend textunverständlich, weil sie schnell, gern und gekonnt in die Höhe gleitet. Oben rum mögen es die Komponisten offenbar ohnehin am liebsten. Und so muss auch Michael Taylor als Kandidat respektive Vater immer wieder in die Rolle des Soprans, obwohl es für das Spiel keinen hörbaren Gewinn bringt. Immerhin dürfen Benjamin Popson als Held und Frederik Schauhoff als Direktor sich in ihren wenigen Auftritten gekonnt im Baritonfach üben. Darstellerisch gibt es für alle Beteiligten keine besonderen Herausforderungen.

In Sachen Musik haben Meyer und Blumenthal für heutige Verhältnisse in die Vollen gegriffen. Sie haben gleich zwei Komponisten und einen DJ beauftragt. So viel Luxus erlebt man selten. Zumal die heutigen Komponisten es im Vergleich zu Verdi und seinen Kollegen extrem schwer haben. Damals haben die Komponisten „Fließbandarbeit“ im besten Sinne geleistet. Sie konnten sich also permanent weiterentwickeln. Und wenn eine Komposition mal nicht so gelungen war, wurde das halt am nächsten Tag durch einen neuen Einfall kompensiert. Dank der heute geübten Praxis der Opernhäuser, möglichst viel uraltes Repertoire in den Orchestergraben zu bringen, bekommen die Komponisten der Gegenwart vielleicht ein oder zwei Mal im Leben Gelegenheit, eine Oper zu schaffen, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Hier musste sich also nicht nur ein einziger Komponist auf eine völlig neue Aufgabe einstellen, sondern Oxana Omelchuk und Gordon Kampe mussten sich auch noch mit Vincent von Schlippenbach aka DJ Illvibe zusammenraufen. Eine extreme Herausforderung, die alle drei auf heutigem Niveau extrem überzeugend lösen. Während auf dem Balkon mit Versatzstücken aus Fidelio gescratcht wird, ertönt von der seitlichen Bühne sogar so etwas wie eine Ouvertüre.

Da, also auf der eigentlichen Bühne des Carlswerks Victoria, ist MAM.manufaktur für aktuelle musik aufgestellt. Blumenthal kann hier an erster Stelle ihre Exzellenz unter Beweis stellen, denn sie muss, mit dem Rücken zum Saal, die genauen Einsätze im Zusammenspiel mit DJ Illvibe finden. Auf den Punkt können sich so die elf Musiker des Ensembles in die Scratches einmischen und sie ablösen. Die Dirigentin konzentriert sich voll und ganz auf ihre Arbeit, die Kommunikation mit dem kleinen Orchester. Für Spielereien hat sie keinen Platz – und keine Zeit. Die Präzision von Dirigat und Spiel ist beeindruckend. Und da würde man sich doch wirklich wünschen, so etwas mit einer Klangfülle beispielsweise einer Wiener Schule zu erleben. Aber sei’s drum. Omelchuk und Kampe haben hier für heutige Verhältnisse schon mehr als ordentliche Arbeit geleistet, und so kann das Orchester dem Publikum Spannung, Dramatik und Einfallsreichtum bieten, die den Stimmen der Sänger ausreichend Entfaltung einräumen.

Das Publikum dankt es mit langanhaltendem Applaus und hat es nach der Aufführung nicht eilig, nach Hause zu kommen. Und weil derzeit so viele Veranstalter so tun, als sei ein Programmheft oder auch nur ein Abendzettel die überflüssigste Sache der Welt, gilt es hier abschließend, ein besonderes Lob an die Projektleitung zu richten. Auch in der Kölner Spielstätte sucht man Programmhefte vergebens. Stattdessen gibt es an der Kasse einen Zettel mit einem QR-Code, den man mit jedem handelsüblichen Smartphone und einer App einlesen kann. Und schon findet man ein vollständig gestaltetes Programmheft auf seinem Mobilgerät wieder. Das ist, zumal kostenlos, nicht zu viel verlangt und eine wunderbare Lösung, dem Publikum die nötigen Zusatzinformationen zu liefern. Dass da auch noch Platz für das Libretto gewesen wäre – na gut.

Ach so, und was ist nun in finanzieller Hinsicht aus den vielen Fördermitteln geworden, die man in das Projekt investiert hat? Da war jeder Euro goldrichtig angelegt, wenn man eine moderne Oper will. Die wenigsten Opernhäuser können ja offenbar leisten, was der heutige Abend ermöglicht hat.

Michael S. Zerban