O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Lys Y. Seng

Aktuelle Aufführungen

Unverbrüchlichkeit ist nicht ewig

3 SCHWESTERN
(Anna Möbus, Franziska Schmitz)

Besuch am
1. Juni 2022
(Premiere am 24. März 2022)

 

Niehler Freiheit, Köln

Eine ausgefallene Spielstätte kann die Wirkung des dort gezeigten Stücks in großartiger Weise verstärken. In Köln, so berichtet Regisseurin Andrea Bleikamp, stellt sich aber inzwischen für die so genannte Freie Szene nicht mehr die Frage, einen geeigneten Spielort zu finden, sondern vielmehr, überhaupt noch einen Ort zu finden, wo man spielen kann. Bleikamp ist Künstlerische Leiterin des Theaterkollektivs Wehr 51, das sich längst einen Namen über die Grenzen Kölns hinaus gemacht hat. Aber auch Prominenz hilft kaum noch. Und so gerät jemand, der sich 3 Schwestern vom Schmitz + Möbus Kollektiv anschauen will, in ein Panoptikum, das eher an einen Horrorfilm erinnert. Wenn einen das Navigationssystem bei der Eingabe der Adresse Niehler Freiheit an der Vogelsanger Straße 385 in Bickendorf von der Autobahn ruft, wird es schon abenteuerlich. Denn die Niehler Freiheit liegt am anderen Ende der Stadt und hat mit der Vogelsanger Straße erst mal nichts zu tun. Sollte Stephen King den Besuch eines Autofriedhofs beschreiben wollen, fände er vermutlich an dieser Adresse eine wunderbare Vorlage. Und hier sein Auto abzustellen, das normalerweise gut geschützt in einer Garage untergebracht ist, gleicht schon einer Mutprobe.

Am Ende der Sackgasse geht es an einer Fahrrad-Reparaturwerkstatt mit Aussichtsplattform vorbei. Kurz vor einer Holzwerkstatt liegt der „Theatersaal“. Einst tatsächlich an der Niehler Freiheit ansässig, haben die Betreiber den Namen mitgenommen, um an der Vogelsanger Straße einen „urbanen Kulturverein“ zu betreiben. Tatsächlich ist das Gebäude überraschend vollständig ausgestattet. Es gibt einen Zuschauerraum, der mit alternativen Sitzgelegenheiten ausgestattet ist. Am Kopf des Bühnenraums ist eine Bar eingerichtet. Links davon ist die Technik in einer eigenen Nische untergebracht. Hinter der Bar gibt es den Backstage-Bereich. Vor der Bar gibt es einen Raum, den man sehr positiv formuliert als Kammerbühne bezeichnen kann. Ja, nach einer gewissen Eingewöhnungszeit und mit den Erinnerungen, in welchen Jugendfreizeiteinrichtungen man sich in der eigenen Jugend herumgetrieben hat, kann man den Räumlichkeiten einen gewissen Charme abgewinnen.

Foto © Lys Y. Seng

Franziska Schmitz und Anna Möbus führen ihr erstes eigenes Stück in der Regie von Bleikamp an diesem Ort auf, als hätten sie es dafür geschrieben. Dass es ohne ersichtlichen Grund 15 Minuten später beginnt als angekündigt, ist selbst für die so genannte Freie Szene ungewöhnlich. Aber die nachfolgenden 70 Minuten entschädigen für die sinnlose Wartezeit. In der Mitte ihres Lebens treffen die beiden Schwestern Selma und Luise – wer hier an den Film Thelma & Louise von Ridley Scott aus dem Jahr 1991 denkt, lässt sich in die Irre führen – wieder aufeinander. Und ja, sie begeben sich auf eine Reise, allerdings nicht an den Abgrund des Grand Canyon, sondern in ihre Vergangenheit, als es noch drei Schwestern und eine Familie mit engem Zusammenhalt gab. Das Ungewöhnliche am Stück ist, dass der Zuschauer nicht in eine Fiktion, eine theoretische Auseinandersetzung versetzt wird, sondern dass die Mütter beider Darstellerinnen den Verlust ihrer Geschwister erlebt haben und ihre Töchter nun darüber reflektieren, was diese bittere und traurige Erfahrung mit ihnen gemacht hat. Dazu lassen sie die älteste Schwester, Freddy, bei einem Badeunfall sterben, nachdem sie das häusliche Glück in seiner Fassadenhaftigkeit an einem Puppenhaus dargestellt haben. Was hätte die Idylle mit all ihren kleinen Fragezeichen auseinanderbrechen lassen können? Doch wohl nichts. Bis zu jenem Sonntag im Wellenbad. „Die Unverbrüchlichkeit ist nicht ewig“, muss sich Möbus eingestehen. Ohne Pathos, tonlos fast. Eine der stärksten Stellen des Abends, der ansonsten immer wieder eintaucht in die pulsierende Lebendigkeit der Erinnerung. Musik von der Festplatte sorgt für zusätzliche Stimmung. Alsbald liegen zwei Seelen aufgebrochen vor den Zuschauern, umspült von rückhaltloser Spielfreude, die Choreografin Sophie Killer mit viel Körpereinsatz vorantreibt.

Dass dem Stück stundenlange Interviews im Familienkreis vorangingen, die auch den Gesprächspartnern die Möglichkeit gaben, die eigene Sprachlosigkeit oder besser den eigenen Sprachverlust angesichts eines Kindstodes zu durchbrechen, ist dem Stück, in das die Ergebnisse einfließen, gut bekommen. Und so geht die Zeit, die hier nur so verfliegt, in einer hohen Bugwelle zu Ende, ehe das Publikum sich in einen aufschäumenden Applaus stürzt, der nicht mit Bravo-Rufen spart. Andrea Bleikamp darf sich hier zu Recht einmal mehr auf die eigenen Schultern klopfen, Anna Möbus und Franziska Schmitz haben einen grandiosen Einstand geliefert, bei dem sie es schwer haben werden, das Niveau zu halten. Bis dahin aber haben Zuschauer in Groß-Schönebeck, Berlin und schließlich am 29. Juni noch einmal in Köln, dann allerdings im Maastrichter Salon, noch Gelegenheit, sich davon zu überzeugen, dass hier großartiger Nachwuchs die Theaterszene bereichert.

Michael S. Zerban