O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Tanzfest als Sommerparty

LA CORRUPTA
(Diverse Choreografen)

Besuch am
20. September 2019
(Einmalige Veranstaltung)

 

Theaterzelt im Quartier am Hafen, Köln

Herrschaften in Abendgarderobe wird man hier genauso wenig finden wie Canapés und Champagner. Im Theaterzelt im Quartier am Hafen in Köln-Poll feiert die Jugend, und sie feiert sich selbst. Constanza Ruiz und Greta Salgado Kudrass, beide studierte Tänzerinnen, haben zur zweiten Veranstaltung mit dem Namen La Corrupta – die Bestechliche – eingeladen. Laut Untertitel handelt es sich um eine zeitgenössische Tanzplattform. Allerdings vergisst der Untertitel, das Wesentliche zu erwähnen. Denn Ruiz und Kudrass machen den etablierten Institutionen vor, was die immer noch nicht richtig verstanden haben und was das heutige Publikum längst will: einen Abend als Gesamterlebnis, der nicht mit dem Stück beginnt und aufhört. Offiziell beginnt „die Aufführung“ um halb acht am Abend. La Corrupta ist aber keine Aufführung, sie beginnt auch nicht pünktlich, sondern irgendwie und irgendwann. Vor dem Theaterzelt wuselt es. Künstler kommen an und richten ihre Spielstätten ein. In einer Ecke ist ein Tisch aufgebaut, auf dem Speisen zubereitet werden. Auf einem weiteren Tisch sind Tapas angerichtet. Zwei Feuerstätten verbreiten noch wenig Wärme, werden zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht wirklich gebraucht. An einem dritten Tisch können sich die ebenfalls allmählich eintreffenden Gäste ihr Glas Wein abholen, der in einem Eintrittspreis inbegriffen ist, den es eigentlich nicht gibt. Wer bei einer Kleinveranstaltung Eintritt verlangt, sieht sich staatlichen Forderungen ausgesetzt, die jedes Unternehmen im Keim ersticken. Über eine Spendenregelung geht’s. Der Trend greift um sich. Man könnte auch sagen: Wer kreativ werden will, ist auf Gönnerhaftigkeit angewiesen. Ein Armutszeugnis für Deutschland im Jahr 2019. Aber Kudrass und Ruiz gehen noch weiter. Sie verschwenden ihre Zeit nicht auf das Ausfüllen von Förderanträgen, obwohl gerade ein solcher Abend finanziell satt ausgestattet werden müsste. Sie vertrauen auf ihr Publikum und verwenden ihre kostbare Zeit eher darauf, einen ausgefallenen Abend zu gestalten, den man getrost als Gesamtkunstwerk bezeichnen darf, anstatt irgendwelche Formulare auszufüllen.

Franziska Gerth – Foto © O-Ton

Schnell füllt sich das Gelände vor dem Zelt. Vor dem legendären, historischen Umzugswagen wird eine Plane ausgebreitet, auf der Mischpult und Verstärker aufgebaut werden, ein Musiker seine Gitarren stimmt. Henrique Almeida gehört zum Duo Dois Sons, das sich an diesem Abend zum Trio erweitert, weil eine Sängerin dazustößt, und mit verschiedenen Musikrichtungen wie Bossa Nova, Jazz, Fado und Flamenco glänzt. Rasch ist ein Spot ausgerichtet, und schon geht es mit Fado-Gesängen los. Viel zu schnell brechen Kälte und Dunkelheit herein. Währenddessen richten sich die Gäste aller möglichen Nationen mit Bier, Wein und allerlei frisch zubereiteten Speisen ein. Die Stimmung der Gartenparty kann kein Theaterhaus bieten. Nach einer kurzen Begrüßung durch die Gastgeberinnen geht es weiter zum nächsten Spielort. Vor der rückwärtigen Hauswand des Quartiers am Hafen, vor dem das Theaterzelt aufgebaut ist, haben sich Franziska Gerth und Natascha Meißner eingerichtet. Rechts von der Bühne, einer Terrassenfläche, hat Meißner mit Mischpult und Bratsche Platz genommen, Gerth steht an der Hauswand, lediglich mit Brille, Sakko und zerfleddertem Slip bekleidet. Acuariana nennt Gerth ihre Darbietung, die von Meißner mit Gesang, Viola und Loop begleitet wird. Gerth begibt sich in einen verzweifelten, existenziellen Kampf, in dem ein Kretin, eine Fantasiegestalt, sich gegen sich selbst und schließlich gegen die Erde auflehnt. Entbunden aller irdischen Güter triumphiert der nackte, göttliche Körper schließlich und reckt sich empor. Eine radikale Entäußerung, die beim Applaus zeigt, dass hier kein Fachpublikum vertreten ist. Zu flach der Beifall der jungen Leute, um echten Enthusiasmus zu zeigen.

Weiter geht es im Theaterzelt mit körperlicher Akrobatik. Auch hier kein Luxus. Ein paar Stühle, ein paar Sitzsäcke als neue Errungenschaft, ansonsten gibt es Holzpaletten, die tribünenartig angeordnet sind. Die Bühne ist ebenerdig, mit weißer Bodenplane ausgelegt und im Hintergrund mit weißem Leinen abgehängt. Mehr braucht es nicht, um die nächsten Choreografien zu zeigen. In Schatten setzen sich Raúl Martinez und Tina Halford mit dem psychoanalytischen Begriff des Schattens tänzerisch auseinander. Dabei greifen sie auf Mittel des Physical Theatre zurück und zeigen teils atemberaubende Bodenakrobatik. Da die Stücke – theoretisch – nicht mehr als 15 Minuten dauern dürfen, verfliegt die Zeit über dem dichtgepackten Programm. Ein Typ in weißem T-Shirt und Jeans betritt die Bühne mit einem Besen und fegt sie durch. Seltsamer Anblick in diesem Umfeld. Anschließend zieht sich die Person hinter die Rückwand zurück und wechselt die Kleidung. Herauskommt Linda Martikainen im weißen Badeanzug. Für ihr Stück Meeting benötigt sie etwas, was aussieht wie ein verlängerter Pferdeschwanz. Dieses „Gegenüber“, mit dem sie sich nun tänzerisch auseinandersetzt, verleiht der Choreografie mitunter komische Züge und verhindert, dass das stark an Ausdruckstanz erinnernde Geschehen allzu langatmig wird.

Brigitte Huezo – Foto © O-Ton

In der Pause begibt sich das Publikum wieder vor das Zelt. Es ist inzwischen schon empfindlich kühl. Noch einmal tritt Dois Sons auf, diesmal mit dem Saxofonisten Alvaro Arias. So setzt sich bei ein paar brasilianischen Evergreens der Gesamteindruck des Abends ungebrochen fort. Zu Beginn der zweiten Hälfte gönnt sich Jens Kuklik, der nicht nur Betreiber des Theaterzeltes ist, sondern an diesem Abend auch für Licht und Technik sorgt, den Spaß, ein paar Werbespots für kommende Veranstaltungen als Projektion zu zeigen. Dann geht es weiter mit der Tanz-Studentin Brigitte Huezo, die unter dem Motto halb zog es sie, halb sank sie nieder ihre Choreografie A.R.I.A zeigt. Im Hintergrund ist eine historische amerikanische Aufnahme zu hören, in der etwas Unverständliches über verschiedene Stationen des Lebens erzählt wird. Es kommt Huezo vielleicht auch mehr auf die typische Klangkulisse als auf die tatsächlichen Inhalte an. Jedenfalls wirkt ihre Choreografie schon hochprofessionell und ist damit vielversprechend. Einen kleinen Höhepunkt bietet das Programm mit dem letzten Stück, wenn Gastgeberin Constanza Ruiz selbst die Bühne betritt, um mit Partnerin Maria Mercedes Flores das Duo Onjoy zu präsentieren. Im Putzlicht entwickelt sich das Bewegungsgeflecht schließlich zu einer Urschrei-Party. Da kommt nach nahezu drei kurzweiligen Stunden noch einmal richtig Spaß im Publikum auf.

Zum Konzept des aufwändigen Formates zählt, dass nach dem Ende des Programms das Publikum nicht einfach auseinanderläuft, sondern sich vor dem Zelt von einem DJ musikalisch berieseln lässt, um noch einen Happen zu nehmen und ein paar Worte miteinander zu wechseln. Die jungen Leute, die sich heute Abend hier versammelt haben, stammen aus vielerlei Nationen. Und man verständigt sich in verschiedensten Sprachen. An dieser Generation jedenfalls perlt braune Soße vollkommen ab. Und das ist vielleicht die schönste Erkenntnis des Abends. Ja, und zur Winter-Performance, dann also Corrupta #3 – pro Jahreszeit soll es einen solchen Abend geben, hat sich Greta Salgado Kudrass vorgenommen – wollen sie alle wiederkommen.

Michael S. Zerban