O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Gebrochene Sehgewohnheiten

COMMONNORM
(TachoTinta)

Besuch am
4. Oktober 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Tanzfaktur Köln, Großer Saal

Seit acht Jahren gibt es alljährlich im Herbst das (Rh)einfach Fest in der Tanzfaktur Köln, das in diesen Tagen zu Ende geht. Zum Abschluss gibt es traditionell Auftritte der so genannten Inkubatoren, also solcher Compagnien, die Residenzen in der Tanzfaktur absolviert haben. Eines dieser Ensembles ist TachoTinta, zu Deutsch Tintenfass. 2017 schloss sich die mexikanische Tanzkünstlerin Silvia Ehnis Perez Duarte mit den Südkoreanerinnen Seulki Hwang und Mijin Kim zusammen. Gemeinsam gründeten die drei Absolventinnen der Hochschule für Musik und Tanz Köln die Compagnie, die seither von Erfolg zu Erfolg eilt. Bereits ihre ersten Kurzstücke, Re: moment und Ms. Mon, wurden auf verschiedene Festivals eingeladen, ehe sie 2020 mit ihrem ersten abendfüllenden Programm Cultural Drag beim Hundertpro-Festival in Mülheim an der Ruhr reüssierten. Hier wurden Erfahrungen von „Alltagsrassismus“, wie es die Tänzerinnen ausdrücken, mit der Strategie des Drag, also der ästhetischen Überhöhung in Verbindung gebracht.

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Am 10. September wurde TachoTinta erneut zum Hundertpro-Festival im Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr eingeladen, um ihr neues Stück Commonnorm uraufzuführen. Nach weiteren Aufführungen in Bonn und in München ist es jetzt in der Tanzfaktur zu erleben. Die drei Choreografinnen gehen darin sehr grundsätzlichen Fragen nach. „Normalität ist eine Illusion, diese Vorstellung, die wir uns innerlich wünschen. Eine kleine Veränderung in unserer Wahrnehmung reicht aus, um ihre künstliche Allgegenwart zu brechen“, stellen die drei fest und wollen diese Erfahrung oder Annahme auf der Bühne zeigen. Und es gelingt ihnen hervorragend.

Auf der ansonsten leeren Bühne ist eingangs lediglich eine hochkant aufgestellte, beleuchtete Platte zu sehen. Alsbald machen sich drei Akteure daran zu schaffen, drehen sie, positionieren sich, bis eine Tischgemeinschaft aus einer „falschen“, sprich ungewohnten Perspektive zu erkennen ist. Damit ist das Programm des Abends vorgegeben. In der folgenden knappen Stunde werden immer wieder Sehgewohnheiten durchbrochen, allerdings auf eine höchst originelle und durchdachte Art. Dazu gehören auch die liebevollen Details, die sich Charlotte Ducousso ausgedacht hat. So kann die Platte, die letztlich als Tisch verwendet wird, auf dem sichtbaren Gestell nach physikalischem Ermessen überhaupt nicht halten. Der Tisch müsste spätestens bei der Belastung durch Personen zusammenbrechen. Tatsächlich hält er bis zu drei Menschen gleichzeitig aus. Ebenso faszinierend sind die Kostüme. Da werden aus den Plissée-Röcken, die die fünf Tänzer tragen, im Laufe der Vorstellung Talare, ehe die Akteure ganz unter ihnen verschwinden und so etwas wie Fabelwesen entstehen lassen. Wunderbar. Hier sprießt die Fantasie. Unbedingt erwähnenswert sind die Schuhe, die die Tänzer dazu tragen. Abgesehen davon, dass schon die Verwendung von Schuhen eher ungewöhnlich ist, sehen diese hier so klobig und starr aus, dass der Zuschauer deren Träger nicht beneidet, wenn nicht gar bemitleidet.

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Dabei fängt die Darstellung nach dem ungewöhnlichen Auftakt vergleichsweise harmlos an. Inzwischen vervollständigen neben den drei Choreografinnen Jeff Pham und Mira Plikat die Runde, aus denen es auch in einer hochenergetischen Phase immer wieder Ausbruchversuche gibt. Wenn der Gruppentanz ruckhaft wird, fühlt man sich an die Arbeit von Reut Shemesh erinnert, die bei TachoTinta die Funktion des Outside Eye übernommen hat, also desjenigen, der als Außenstehender auf die Choreografie schaut. Vincent Michalke, der auch zu diesem Stück die Musik komponiert hat, arbeitet mit pulsierenden, um nicht zu sagen stampfenden Rhythmen, die eine hohe Geschwindigkeit vorgeben. In der folgenden Phase sinken Lautstärke und Tempo der Musik rapide ab, die fünf Akteure verwandeln sich zu tableaux vivants, die kleine, ruckhafte Bewegungen in ihren Stillstand einbauen, um sich so wieder um den Tisch zu versammeln. Dort lockt das Kartenspiel, als sei es normal, dass sich Tänzer während einer Aufführung zum Zocken zusammenfinden – und dabei auch noch eine Menge Spaß haben. In der Folge finden die schwarzen Röcke abermals eine neue Bedeutung, wenn sie choreografisch geschickt zur scheinbaren Verlängerung der Körper eingesetzt werden. Alles ist durchschaubar, aber immer erst mal überraschend und neu.

So bleibt es auch in der letzten Phase, in der Röcke und eher unförmiges Schuhwerk ausgedient haben. Unter dem Schwarz kommt eine bunte bis sehr bunte Freizeitbekleidung zum Vorschein, die bislang allenfalls mal hervorblitzte. Neue Schuhe ermöglichen abermals eine Überraschung im Bewegungsablauf. Plötzlich können die Tänzer sich Schlittschuhläufern gleich gleitend über den Boden bewegen. Grandios, wenngleich wohl auch in der dritten Aufführung noch eine Herausforderung in der sicheren Handhabung. Trotzdem gelingt der gewünscht Effekt einwandfrei.

Nach einer knappen Stunde außergewöhnlichen Illusionstheaters, das von der vollbesetzten Bühne im Großen Saal mit rauschendem Beifall bedacht wird, stellt sich allenfalls noch die Frage, ob man mit neuen Illusionen die – angenommene – Illusion von der Normalität tatsächlich ins Wanken bringen kann. Oder einfach nur die Fantasie in der Normalität beflügelt hat. Das können dann die Zuschauer entscheiden, wenn sie vom 20. bis 22. Oktober oder vom 1. bis 3. Dezember eine der Vorstellungen in der Flensburger Theaterwerkstatt Pilkentafel besuchen.

Michael S. Zerban