Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
CIRCULAR VERTIGO
(Tim Behren)
Besuch am
20. Mai 2021
(Uraufführung)
Theaterpädagogisches Zentrum Zirkus- und Artistikzentrum, Köln
Das Gelände des Theaterpädagogischen Zentrums Zirkus- und Artistikzentrum, das ein wenig versteckt hinter der Kölner Jugendherberge am Rheinufer liegt, erinnert an eine Fantasiewelt für Kinder. Ein paar Baracken und Zirkuszelte in einem eingezäunten Gelände, auf dem man sich nicht einen Moment wunderte, wenn Kapitän Efraim Langstrumpf, der Schrecken der Meere, nunmehr König der Südsee, plötzlich um die Ecke käme, um nach seiner Tochter Pippi zu fragen. Hier sitzt auch Overhead Project, eine Tanzkompagnie, die in diesem Jahr das Circus Dance Festival durchführt. Ein digitales Festival, das überwiegend aus Filmen besteht, aber auch einige wenige Aufführungen live streamt. Die Idee, zeitgenössischen Tanz mit zeitgenössischem Zirkus zu kombinieren, überzeugt.
Als Auftaktveranstaltung wird eine Produktion von Overhead Project im Livestream gezeigt. Dazu geht es nach einer halbstündigen Eröffnung, die mutig im Freien stattfindet, in eines der Zirkuszelte. Livestream bedeutet, dass wenig Publikum und viel Technik im Raum versammelt sind. Die Spielfläche ist, wie es sich für einen Zirkus gehört, mittig angeordnet, aber als Guckkastenbühne gestaltet. Am hinteren Rand der kreisrunden Fläche sind Spiegelstreifen aufgestellt, der weiße Boden bleibt frei. Für Bühnen- und Lichtgestaltung ist Charlotte Ducousso verantwortlich. Beim Licht bleibt es bei Wechseln zwischen weißen Lichtfarben, die aber sind durchaus effektvoll und unterstreichen das Geschehen von Circular Vertigo. Kreisförmiger Schwindel hat Tim Behren seine Choreografie genannt, an der neben der Tänzerin Mijin Kim auch Hrista Panayotova und Breno Caetano beteiligt sind. Die Idee dazu ist nett und auch ein wenig spektakulär, wie es sich für Zirkus eben gehört.
Foto © O-Ton
Wenig spektakulär ist das Kostüm von Kim, das ebenfalls Ducousso entworfen hat. Braunes Hemd und schwarze Hose bieten Bequemlichkeit, ohne mehr als nötig vom Körper zu verraten. Der bewegt sich in der Einleitung tänzerisch vor den Spiegelstreifen und sorgt dabei für interessante optische Effekte. Dann wird ein Pauschenpferd auf die Bühne gezogen. Ohne es zu wissen, dürften die meisten Menschen im Publikum bereits einmal auf einem Pauschenpferd gesessen haben oder zumindest darüber gesprungen sein, vermutlich im Rahmen eines der verhassten Circle Trainings im Schulsport. Der mit Leder überzogene und mit zwei Griffen versehene Bock ist um die 100 Kilogramm schwer. Stabil genug, um Generationen von Schülern mindestens einmal darüber springen zu lassen. Bei Gymnastik-Wettbewerben sind da natürlich noch ganz andere Möglichkeiten gegeben. Aber all dieser Übungen entzieht sich das Pauschenpferd an diesem Abend. Vielmehr wird es an einem Ende an einer Kette in die Höhe gezogen. Und so beginnt die Auseinandersetzung einer Artistin mit einem Turngerät.
Es ist in der Tat eindrucksvoll, was den Beteiligten zu diesem freischwingenden Gegenstand einfällt. Kim besteigt das kreisende Gerät, klettert daran empor. Fällt aus nicht unbeträchtlicher Höhe davon ab. Lässt sich umkreisen, ohne berührt zu werden, dabei treten staunenswerte illusorische Effekte zutage. So ungezogen sich das Pferd auch bewegt, und es fehlt dem Zuschauer die Vorstellungskraft, dass man jede Bewegung des Objekts genau kalkulieren und reproduzieren kann, ist die Tänzerin doch immer Herrin der Lage. Wenn man ihren Körper auf die Hälfte des Gewichts vom Pferd schätzt, liegt man vermutlich schon ziemlich hoch in der Schätzung. Was Kim herzlich egal ist. Ohne jede Scheu zeigt sie dem Publikum, dass kein Gegengewicht groß genug sein kann, wenn man Willen und Technik beherrscht. Eine ungewöhnliche und begeisternde Darstellung, aus der sich vielerlei Deutungen ableiten lassen. So gelingt es, mit einem Solo – wenn man es so nennen will – eine Dreiviertelstunde lang für packende Spannung zu sorgen.
Simon Bauer sorgt dabei für Komposition und musikalische Dramaturgie. Das gelingt bedingt. Sphärisches Knistern, das häufig genug eher an Störungsgeräusche im Aufbau denken lässt, schließlich ist ein freischwingendes Pauschenpferd, das an einer schmalen Kette in der Mitte des Raumes hochgezogen ist, nicht ganz frei davon, technischen Störungen anheimzufallen, wird für kurze Momente zu so etwas wie Musik. Vielleicht hätte ein bisschen mehr musikalische Kraft für mehr „Zirkus-Feeling“ gesorgt. Wer weiß das schon?
Die Zuschauer im Raum jedenfalls interessiert es nicht. Die sind vollkommen begeistert – und wären es ein paar hundert mehr, wäre die Freude nur umso größer gewesen.
Michael S. Zerban