Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
CAMPING PARAISO**
(Analog-Theater)
Besuch am
27. März 2022
(Premiere am 23. März 2022)
Die Leute vom Analog-Theater hatten immer viel Spaß an den lustigen Nachrichten, die Dirk Roß auf den so genannten sozialen Medien verbreitete. Bis zum Mai 2020. Da endeten die Nachrichten abrupt. Es sollte noch dauern, bis die Theatermacher erfuhren, was geschehen war. Der Comedyautor war Opfer eines Verkehrsunfalls geworden. Ein Auto nahm ihm auf dem Motorroller die Vorfahrt. Monatelang schwebte Roß zwischen Leben und Tod. Aber seine Zeit war noch nicht gekommen. Während er sich langsam erholte, nahmen die Theatermacher Kontakt mit ihm auf. Sie wollten seine Geschichte erzählen. Roß war einverstanden und erzählte ihnen in Interviews, was ihm seit dem Unfall widerfahren war. Es entwickelte sich ein zutiefst vertrauensvolles Verhältnis. Als es darum ging, seine Erzählungen in einen Theatertext umzusetzen, zog Roß sich zurück, weil er bei der künstlerischen Umsetzung ganz auf Daniel Schüßler und sein Team setzte.
Weil eine Bühnenfassung zunächst nicht umsetzbar war, entstand in Kooperation mit der Studiobühne Köln und Michael Vella ein Video, das inzwischen auf verschiedenen Festivals gelaufen ist. Dabei stand von Anfang an fest, dass es bei dem Video nicht bleiben sollte. Auf der Bühne, so der Anspruch, sollte erst zur vollen Wirkung kommen, was im Film schon so gekonnt umgesetzt war. Inzwischen ist Roß wieder genesen, und so stand einem Freudenfest nichts im Wege, als die Uraufführung des Theaterstücks am 23. März im Kölner Orangerie-Theater stattfinden konnte. Ob Roß mit der Umsetzung einverstanden ist? Nun, auch in der heutigen Sonntagsaufführung ist er wieder dabei, um sich das Stück noch einmal anzuschauen. Das ist wohl Antwort genug. Mit zehnminütiger Verspätung beginnt eine poetische Alptraum-Reise, die lange unvergessen bleiben wird.
Ausgangsort der Reise ist der Zwei-Sterne-Campingplatz Camping Paraiso an der spanischen Costa Brava. Zwei Sterne in Spanien – da wird jeder deutsche Urlauber dankend ablehnen. Und so sieht die Bühne auch aus, die die dreidimensionale Öffnung der flächenfüllenden Projektionen auf der Rückseite der Bühne bewirken will. Ein paar armselige, teils umgestürzte Camping-Stühle, ein Wasser-Bassin unterhalb der Leinwand, rechts ein paar Ständer für die Kostüme. Im Wasser-Bassin ein Skelett. Es sieht armselig und längst nicht mehr nach dem Sehnsuchtsort aus, der der Campingplatz einmal war. Noch liegt die Bühne im Halbdunkel und bietet doch schon einen der Höhepunkte der Aufführung. Drei Gestalten stehen reglos in der armseligen Umgebung. Eva Sauermann verantwortet nicht nur die Ausstattung, sondern auch die grandiosen Kostüme. Dorothea Förtsch trägt eine Fechtermaske und eine Corsettage, auf der sie ihr anatomisch geformtes Herz offen zur Schau stellt. Lara Pietjou trägt als Kopfmaske die Nachbildung des Totenkopfschwärmers, einer Motte, die spätestens seit dem Schweigen der Lämmer jedem ein Begriff ist. Und Ingmar Skrinjar ist als Anubis, der altägyptische Gott der Totenriten und der Mumifizierung, verkleidet. Drei Statisten erweitern das Personal auf der Bühne. Da gibt es den Hasenkopf als Zeichen der Reinkarnation, den Mond, der – blutüberströmt – die Gezeiten beeinflusst und schließlich den Krad-Fahrer mit Netzstrumpfhose als Sturmmaske unter schwarzem Helm zu orangefarbener Jacke.
Foto © Nathan Ishar
Ein wunderbar grotesker Einstieg, der letztendlich auch dazu geführt haben mag, dass der Titel des Stücks Camping Paraiso** – Über das Sterben angesichts des Ukraine-Krieges sich plötzlich nicht mehr richtig anfühlte und im Untertitel Über das Leben geändert wurde. Genau die richtige Entscheidung. Denn in der Folge geht es eigentlich nicht um das Sterben, sondern um die Rückkehr zum Leben. Und die gestaltet sich schwierig. Denn die Liste der medizinischen Diagnosen gestaltet sich lang. Auch wenn sie im Mediziner-Latein vorgetragen wird, wird dem Publikum schnell klar, dass vom Körper des Unfallopfers nicht mehr allzu viel übriggeblieben ist. Verbildlicht wird das mit einer Projektion, die einen blutüberströmten Körper zeigt. Der Bewegungsapparat, also das Skelett, ist fast vollständig zerstört, der Darm hat massive Schäden davongetragen und die Lunge ist de facto nicht mehr funktionsfähig. Ob es am Koma, dem Fieber oder den Medikamenten liegt, ist letztlich egal. Der Patient driftet in eine Zwischenwelt ab. Die wird einerseits in immer wiederkehrenden Bildern von der Strandlandschaft in Spanien dargestellt, andererseits findet sie sich in den Texten wieder, die mal aus dem Off, mal von den Darstellern direkt wiedergegeben werden.
Nein, es ist nicht alles schlecht in dieser Zwischenwelt. Allenfalls die Unerreichbarkeit des im Koma liegenden Betrachters treibt ihn zur Verzweiflung. Währenddessen fluten Bilder vom Strand den Raum, tummeln sich die Darsteller in der Wasserlandschaft, dann wieder liegen alle wahrlich zu Tode erschöpft herum. Ein Panoptikum der Gefühle, das innerhalb einer Stunde vermutlich so ziemlich alles zeigt, an was sich Roß zu erinnern vermag. Ob die Verwunderung über den fehlenden Film, der einem noch einmal die schönen Bilder des zurückliegenden Lebens zeigt, der Neid auf den Mitpatienten, der die Schmerzmitteldosis selbst festlegen darf, oder die Party der Krankenhausmitarbeiter an seinem Bett. All das taucht in einem aufregenden Gemisch aus Handlung auf der Bühne, Projektion auf der Leinwand und durchdringender Musik auf. Ben Lauber hat dafür eine eigene Komposition gefunden. Dass er zwischendurch Reality von Richard Sanderson aus dem Jahr 1980 einspielt, das als Filmmusik von La boum unter dem Titel Dreams are my Reality zu Weltruhm gelangte, klingt zunächst ein wenig trivial, funktioniert aber gerade im Nachhall.
Gänsehaut gibt es, als all die Fantasiefiguren die Bühne durch den Haupteingang des Saals verlassen, der Spuk ein Ende nimmt, den Regisseur Schüßler noch mit ein paar eindrücklichen Einfällen garniert. Textsichere und spielfreudige Darsteller, eine Tonabmischung, die Überraschungen bietet, poetische Bilder in der Projektion: Das Analog-Theater ist nicht nur der Geschichte von Roß absolut gerecht geworden, sondern bietet eine Aufführung vom Allerfeinsten. Und so wird auch die Dernière so erfolgreich, dass es hoffentlich zu weiteren Aufführungen an anderen Orten kommt.
Michael S. Zerban