O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Suche nach der Identität

BREAKING POINTS
(Malika Kishino, Georg Philipp Telemann)

Besuch am
30. Dezember 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Zamus im Orangerie-Theater, Köln

Nach einem Jahr wie diesem ist es erlaubt, am vorletzten Tag über Heimat und kulturelle Identität zu philosophieren. Viele Millionen Menschen sind auf der Flucht. Das bedeutet, sie verlieren alles, was den Menschen ausmacht. Urvertrauen, Heimat, kulturelle Identität gehen im Sekundentakt verloren. Kinder wachsen in der Fremde auf. Sie werden nicht gefragt, ob sie das können, sie werden nicht einmal gefragt, ob sie das wollen, auch wenn es gar nicht der Krieg ist, der die Eltern zur Migration veranlasst. Midori Seiler hat das selbst erlebt. Geboren in Osaka, zogen ihre japanische Mutter und ihr deutscher Vater mit ihr nach Salzburg, als sie drei Jahre alt war. Aufgewachsen in der österreichischen Stadt, führte ihre Ausbildung zur Geigerin sie nach Basel, London und Berlin. Berufliche Stationen sorgten unter anderem für Aufenthalte in Toronto, Brügge, Budapest und Köthen. In Weimar und Salzburg arbeitete sie als Professorin für Barockvioline, bis heute lehrt sie an der Folkwang-Universität in Essen und lebt in Köln. Die Konzertmeisterin führt ein Leben, um das sie sicher viele Menschen beneiden. Ihre Fragen nach der Heimat, nach der eigenen kulturellen Identität können die „Neider“ genauso wenig beantworten wie sie selbst.

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Trotzdem stehen die Fragen im Raum. Und Seiler setzt sich damit künstlerisch auseinander. Das Zentrum für alte Musik Köln hat Breakpoints – Sollbruchstellen produziert und zeigt eine Aufführung im Orangerie-Theater am Kölner Volksgarten. Die Geigerin hat Snow, Moon, Wind and Flowers von Malika Kishino, ein fünfsätziges Violin-Solo aus diesem Jahr, mit zwei Fantasien von Georg Philipp Telemann sowie Texten von Sei Shōnagon aus dem Kopfkissenbuch und aus den Briefen der Liselotte von der Pfalz zusammengestellt. Die kaiserliche Hofdame aus dem alten Japan entstammte einer alten Gelehrtenfamilie und gehörte zur engsten Entourage der jungen Kaiserin Sadako. Ihr Buch Makura no Sōshi ist die älteste und berühmteste Kurztextsammlung, in der sie Weisheiten, Anekdoten und Kurzbetrachtungen zu vielen Themen notierte. Das ist rund tausend Jahre her, und doch klingt hier manches recht aktuell. Liselotte von der Pfalz wurde mit 19 Jahren mit Philippe von Orléans, dem schwulen Bruder König Ludwigs XIV., verheiratet. Man sagt der Duchesse de Orléans, die von 1652 bis 1722 lebte, nach, 60.000 Briefe verfasst zu haben. Seiler hat ihre Materialsammlung der Regisseurin Dominique de Rivaz anvertraut, die sie zu einer etwas mehr als einstündigen Aufführung inszenierte. Werden Texte und Musik zunächst jeweils getrennt vorgetragen, lässt de Rivaz sie zunehmend miteinander verschmelzen. Dazu schaffen Anne Ramseyer Duplain und Xavier Hool einen Bühnenraum, der im Wesentlichen aus vier Rahmen in der Mitte des Raums, zwei Notenständern und einem Podest zur Ablage der beiden Geigen besteht. Auf einem der Rahmen ist ein zerknittertes Papier aufgebracht, das als Projektionsfläche dient. Am rechten Rand ist ein Verschlag aufgebaut, aus dem Seiler zu Beginn auf die Bühne tritt. Emma de Grussa hat das Kostüm der Musikerin umgesetzt, ein schwarzes Trikot für den Oberkörper, eine weite, schwarze Hose, unter der zwei Abstandshalter an die moderne Weiterentwicklung eines Reifrocks denken lassen. Ins rechte Licht gerückt hat den Abend Dominique Dardant. Eine echte Herausforderung für Seiler, die sich zur bestimmten Zeit an einem Platz einfinden muss, um im Spot zu stehen.

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Die Musikerin darf an diesem Abend zeigen, was neben ihren Fähigkeiten an der Geige alles in ihr steckt. Sich die Bewegungs- und Handlungsabläufe für ein einstündiges Solo-Programm einzuprägen, ist allein schon Leistung. Dass sie die Zwischentexte auf dem Gang beispielsweise zwischen den beiden Pulten oder während sie mit den Rahmen spielt, auswendig zitiert, nötigt Respekt ab und sorgt dafür, dass der Fluss nicht abreißt. Ihre angenehme Stimme verleiht den Texten Authentizität und Gegenwartsnähe, auch wenn es manchmal eine Spur zu ernsthaft bleibt. Hier und da ein wenig mehr Süffisanz, ein bisschen Ironie oder auch nur Verschmitztheit an der einen oder anderen Stelle könnte den Vortrag noch gewinnen lassen. Aber das wäre dann wohl die Piemont-Kirsche auf dem Sahnehäubchen, ohne die es auch ganz gut geht. Zumal Seiler ein Höchstmaß an Konzentration für die ungewöhnliche und spielerisch anspruchsvolle Musik aufbringen muss, wenn sie vom Blatt spielt. Da werden allein die Griffe auf dem Steg schon zum Hingucker, fein geschliffen erklingt das Kratzen und Säuseln des Bogens, kurzum gerät die Uraufführung meisterlich. Die Noten Telemanns dienen wohl eher als Anhaltspunkt, wenn sie die Interpretation so weit gestaltet, dass sie sich für den Laien kaum noch von der Gegenwartsmusik unterscheiden lässt. Dabei zeigt die Künstlerin eine Selbstsicherheit, als sei es das Normalste auf der Welt, eine Bühne in allen Aspekten zu beherrschen.

Obwohl für den Abend zusätzliche Stuhlreihen im Orangerie-Theater aufgebaut wurden, ist hier auch der letzte Platz besetzt. Und so klingt der Applaus auch angemessen, um die Begeisterung des Publikums widerzuspiegeln. Dieses Jahresende wird den Besuchern lange im Gedächtnis bleiben. Midori Seiler darf sich vollkommen zurecht lange und ausgiebig für eine großartige Leistung feiern lassen.

Michael S. Zerban