O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Joris Jan Bos

Aktuelle Aufführungen

Zu viel Überbau

ATLAS 3 – BLU BLU BLU
(Emanuele Soavi)

Besuch am
15. Oktober 2021
(Premiere)

 

Tanzfaktur, Werkshalle, Köln

Man muss schon in einer hermetisch geschlossenen Blase leben, wenn man ernsthaft glaubt, dass das Publikum Sternchen-Texte in einer Broschüre liest. Nur dann wird man vermutlich heutzutage noch Papierbroschüren in Hülle und Fülle produzieren. Alle anderen versuchen längst, unnötigen Papieraufwand zu vermeiden. Dem mit Rechtschreibfehlern übersäten Abendzettel zur Produktion Atlas 3 – Blu Blu Blu liegen gleich drei Hochglanz-Werbezettel bei. Dabei ist das Thema des Abends eigentlich im gedanklichen Überbau schon viel zu komplex, um sich dabei noch von Fehlern irritieren zu lassen.

Seit 2018 hat Choreograf Emanuele Soavi die Projektreihe Atlas aufgelegt. Dieser Abend trägt nun den Untertitel Magen/Gefühl/Oberkörper/Blau. Atlas ist nach eigenen Angaben „eine Serie choreografischer Spurensuchen, gewidmet dem Körper in Ausnahmesituationen, dem Menschen darin und seiner Geschichte“. Die Aufführung selbst beschäftigt sich nach Soavis Aussage „mit der Beziehung des Körpers zu und mit der Welt und hat dabei dessen Endlichkeit fest im Blick“. Konkret äußert sich das in einem „Todestanz“ mit Sporteinlage auf der Grundlage der Ciaconna für Violine solo von Johann Sebastian Bach aus dem Jahr 1720.

Die Bühne in der Werkshalle der Tanzmanufaktur in Köln ist so einfach wie effizient gebaut. Den Boden bildet eine Judo-Matte, die im Hintergrund von zwei weißen Balken begrenzt ist, die übereinander aufgehängt sind. Auch der Raum dahinter wird später genutzt werden, um die Tänzer in der Lücke zwischen den beiden Balken zu zeigen. Links steht die Geigerin, rechts ist die Elektronik für die zusätzliche Musik aufgebaut. Für die Bühne ist Heike Engelbert ebenso zuständig wie für die Kostüme der Tänzer. Hier herrscht Bequemlichkeit und Bewegungsfreiheit vor. Nackte Haut wird auf der Bühne wenig gezeigt. Dafür ist Meritxell Aumedes Molinero mit ihren Videoprojektionen zuständig, die die nackten Körper in Teilausschnitten in spannungsgeladenem Licht zeigt. Im Raum wechselt das Weißlicht in vielfältigen Variationen.

Foto © Joris Jan Bos

Federico Casadei beginnt mit einem Solo, ehe sich Lisa Kirsch zu ihm gesellt. Im Paartanz werden die beiden stark, zeigen immer wieder überraschende Schrittfolgen und zeigen ihre Hände als Kommunikationsmittel mit dem anderen Körper. Aber nach rund 30 Minuten ist Schluss. Dann betreten die beiden Judoka Tobias Mathieu und Aaron Schneider die Bühne, die Tänzer und Geigerin verlassen. Die beiden Athleten präsentieren ein Programm, das an den offenen Tag beim Judo-Klub erinnert. Also sportlich vom Feinsten, aber der Bruch ist zu stark und überzeugt wenig, wirkt mehr wie ein Werbeblock in der Aufführung. Im dritten Teil kehren Kirsch und Casadei auf die Bühne zurück, ohne allerdings zur Konsistenz zurückzufinden. Da wirkt dann alles ein wenig zusammengesetzt. Aber immerhin gelingt es Soavi, das Publikum in seinen Bann zu ziehen.

Das funktioniert in erster Linie über die Musik. Während Geigerin Nadja Zwiener handlungstreibend auf der Barockvioline wirbelt und virtuos auf den Spuren Bachs wandelt, sich dabei selbst in die Handlung einmischt, indem sie auf der Bühne mit den Tänzern interagiert, ergänzt Johannes Malfatti mit elektronisch hinzukomponierter Musik, in der Soavi die Inkarnation der Unendlichkeit sieht. Lautstark, aber durchaus passend peitscht Malfatti die Emotionen hoch. Ehe der Abend in einem zu lang gehaltenen Geigenton endet.

Das Publikum applaudiert freundlich. Bundesweit gehen die Zuschauerzahlen, so ein heutiger Bericht, bei Theater, Tanz, Oper und Konzert zurück. Ob es an Corona oder den Versuchen von Regierung, Medien und Kulturarbeitern liegt, der Bevölkerung eine völlig irrsinnige Ideologie zu oktroyieren, die Kultur durch eine sexualisierte Sichtweise ersetzen will, wird sich zeigen. Das Schrifttum des heutigen Abends jedenfalls landet umgehend im Müll, weil es genau dafür taugt.

Michael S. Zerban