O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Musikalisches Gipfeltreffen

MEHR MUSIK – SOMMERKONZERT
(Diverse Komponisten)

Besuch am
21. Juli 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Staatsorchester Rheinische Philharmonie, Rhein-Mosel-Halle, Koblenz

Als Intendant Günter Müller-Rogalla erfuhr, dass die geplante Aufnahme einer CD nicht stattfinden durfte, weil so eine Aufnahme sich ja schnell zu einem „Superspreader-Event“ entwickelt und die Zusammenkunft eines Orchesters aus politischer Sicht ohnehin suspekt zu sein scheint, entschloss er sich, das Staatsorchester Rheinische Philharmonie und sein Publikum wenigstens mit einem „Zückerchen“ in Form eines Konzerts in die Sommerpause zu schicken. Aber auch Konzerte haben in diesen Tagen reichlich an Attraktivität verloren. Viele Menschen sind angesichts einer absurden Berichterstattung verunsichert, wenn nicht verängstigt, und scheuen den Gang zum kulturellen Ereignis, das äußerlich ohnehin mehr als Totentanz denn als belebender Kunstgenuss wirkt. Eine Bewirtung ist ebenso wie eine Pause verboten, und der einzige Unterschied zum Besuch einer Intensivstation ist der Umstand, dass die Zuschauer keinen Kittel überwerfen müssen, bevor sie den Schutzbereich betreten. Ganz schön trist.

Die Rhein-Mosel-Halle in Koblenz ist eine typische Mehrzweck-Halle, die vom Betreiber als „zentraler Veranstaltungsort“ angepriesen wird und 2012 generalsaniert wurde. Immerhin gibt es hier ausreichend Platz im Konzertsaal, um die Stuhlreihen so auszurichten, dass sich Besucher nicht mehr die Hände reichen könnten und sich wenigstens ein kleines Orchester auf der Bühne ausbreiten kann. Und Müller-Rogalla ist es gelungen, Gäste einzuladen, die ausreichend Anziehungskraft auf das Publikum ausüben, um den Saal zu füllen. So tritt das Staatsorchester an diesem Abend unter der musikalischen Leitung von Ulrich Kern an.

Schon bei der Ouvertüre im italienischen Stil von Franz Schubert gibt Kern die Richtung vor. Mit vollem Körpereinsatz nimmt der Erste Kapellmeister am Theater Görlitz die Musiker eng an die Hand, hat die Partitur dabei fest im Blick. Das Orchester nimmt die Lebhaftigkeit des Dirigats auf und stimmt sich damit schon auf die größeren folgenden Aufgaben ein.

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Denn eingeladen ist auch Lea Birringer. Eigentlich war sie für den Januar 2023 nach Koblenz vorgesehen, um aus ihrem Debütalbum Di tanti palpiti vorzutragen. Nun kommt sie schon etwas eher nach Koblenz, um ein „Sehnsuchtsstück“ aufzuführen. Birringer gehört zu den Solisten, die die vergangenen anderthalb Jahre vergleichsweise unbeschadet überstanden haben. Im vergangenen August nahm sie in der Berliner Jesus-Christus-Kirche für Deutschlandfunk Kultur ihr Album Transformations auf, das Ende kommenden Septembers erscheinen wird und verschiedene Werke vorstellt, die sich aus der Musik Johann Sebastian Bachs entwickelt haben. Davon wird später noch die Rede sein. Im nächsten Jahr wird auch schon ein weiteres Album erscheinen, auf dem sie ihr Orchesterdebüt mit den Hofer Symphonikern geben wird. Darauf wird dann auch das Konzert für Violine und Orchester in e-moll von Felix Mendelssohn Bartholdy zu hören sein, ein Werk, das Birringer seit dem elften Lebensjahr begleitet. An diesem Abend in Koblenz beweist sie, mit welcher Exzellenz sie das aus Sicht der Violine hochvirtuose Werk beherrscht. Die Philharmoniker unterstützen sie kongenial, wenn sie nicht gerade fasziniert dem Spiel Birringers lauschen, das mit Leichtigkeit und Fingerfertigkeit begeistert, die ihresgleichen suchen. Mit überwiegend geschlossenen Augen durchlebt die Geigerin das Werk und lässt das Publikum so an der Faszination der vier Sätze teilhaben. Hat ein Musiker gelernt, sein Instrument so weit zu beherrschen, dass er diesen Schwierigkeitsgrad als beglückend empfindet, was bei Birringer ganz offensichtlich der Fall ist, könnte er das Publikum auch mit Hänschen klein verzücken. Und so gerät das Publikum außer Rand und Band, nachdem der letzte Ton des Allegro molto vivace verklungen ist.

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Getragen von den Wellen der Begeisterung entscheidet Birringer sich spontan, den dritten Satz aus der Partita Nr. 3 E-Dur von Johannes Sebastian Bach zusätzlich vorzutragen, die dann auch Ausgangspunkt ihres Albums im April kommenden Jahres sein wird. Und heute Abend schon ist klar, dass dieses Album ein Ereignis werden wird.

Nach solchem Auftritt ist es einigermaßen schwierig, den Spannungsbogen zu halten. Auch wenn Joseph Haydn sicher zu seiner Zeit viel Aufsehen mit seiner Sinfonie Nr. 103 erregte, die den Beinamen Mit dem Paukenwirbel trägt, eben weil die Sinfonie damit ungewöhnlich eröffnet, dauert es eine Weile, bis die Wellen der Erregung verebben und Kern mit seinem Orchester das Publikum in den Bann der Haydnschen Musik ziehen kann. Mit dem Finale Allegro con spirito gelingt den Musikern das, und so dürfen sie sich des verdienten Applauses gewiss sein.

Es ist immer wieder schön, wenn das Orchester nach einem solchen Konzert noch mit einer Zugabe aufwartet – in Koblenz haben sich die Besucher wohl einen Klatschmarsch erhofft. Immerhin beschwingt geht es mit dem Militärmarsch Nr. 1 D-Dur von Franz Schubert zu Ende. Womit der Kreis sich schließt.

Da hat das Orchester alles nur Erdenkliche unternommen, um sich über die Rahmenbedingungen hinwegzuspielen, und es ist ihm gelungen. Auch wenn es nach dem Konzert kein geselliges Beisammensein mehr gibt, gehen die Menschen erfüllt nach Hause. Trotzdem bleibt einmal mehr das mulmige Gefühl, dass die Kultur einen äußerst fragilen Zustand erreicht hat. Ob die Besucherströme einer vierten Welle standhalten, die der Bundesgesundheitsminister schon mal rhetorisch für den kommenden Herbst vorbereitet, scheint immer fragwürdiger.

Michael S. Zerban