O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Olaf Struck

Aktuelle Aufführungen

Wunderlinge und drei Orangen

DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN
(Sergej Prokofjew)

Besuch am
18. September 2021
(Premiere)

 

Theater Kiel

Ja, man könnte die Oper Die Liebe zu den Drei Orangen oder das zugrunde liegende Stück von Carlo Gozzi aus dem 18. Jahrhundert oder das noch viel ältere Märchen aus dem Mittelmeerraum mit allen seinen unwahrscheinlichen und fantastischen Wandlungen, aber natürlich dem glücklichen Ende, auch als Sinnbild für die Unsicherheiten unserer Zeit lesen. Das vielleicht umso mehr, als auch Prokofjew die Zeiten der Spanischen Grippe in New York erlebt hat, an die heute angesichts der aktuellen Pandemie oft erinnert wird.

Man kann die Oper, die 1921 in Chicago zur Uraufführung kam und mit der der Komponist gut Geld verdient hat, aber auch als absurdes, nicht psychologisch überfrachtetes Theater auf dem Theater sehen, das heute umso mehr in die Zeit passt, nachdem man so lange darauf hat verzichten müssen.

Regisseur Dirk Schmeding und sein Ausstatter Pascal Seibicke machen rasch klar, dass sie eine direkte und unverstellte Sicht bevorzugen. Nachdem scheinbar zunächst der leitende Dramaturg der Oper einige einführende Sätze zum Verständnis des Werkes sagen will, wird er schon nach drei Worten samt seinem Mikrofon von einer Gruppe von Kindern fortgetragen. Und diese Kinder beherrschen von da an das Geschehen. Sie flitzen wie Mäuse über die Bühne, dürfen sich mit allerlei ulkigen Ideen in die ohnehin schon skurrilen Geschehnisse einbringen und sind letztlich bestimmender Teil von Handlung und Ablauf des Abends. Sie entsprechen den in der russischen Literatur nicht selten auftretenden Wunderlingen. Solche Wunderlinge – zumal als Kinder – können durch ihre Unschuld und ihren unverstellten Zugang das Theater zu einer zauberhaften, unbelasteten Magie zurückführen.

Der Prinz, der aufgrund einer Intrige am Hof an einer Erkrankung zur Melancholie leidet, wird angesichts des regierungsmüden Königs dringend als Thronfolger gebraucht. Durch allerlei Personal aus der Comedia dell’Arte sowie Flüchen und Verhexungen durch einen veritablen Zauberer sowie einer noch eindrucksvolleren Zauberin angereichert, trifft der Prinz unter exotischen Umständen schließlich seine zukünftige Prinzessin, die mit zwei anderen Leidensgenossinnen in drei Orangen verwandelt war. Der Prinz verliebt sich, findet seine Lebensfreude und -kraft wieder, führt seine Ninetta zum Traualtar und wird so schließlich zu dem so herbeigesehnten Nachfolger des Königs.

Foto © Olaf Struck

Diese Handlung entfaltet sich zusammen mit einer wie ein Uhrwerk ablaufenden, brillanten Musik, deren Perfektion eine gewisse Kälte entfalten könnte. Aber die Kinder vermögen zu jeder Zeit das Geschehen auf der Bühne zu erden und in einer spielerischen, leichten Komik fortzutragen.

Der Plot bietet auch für die Sänger dankbare Rollen und wirkungsvoll-komische Auftrittsmöglichkeiten.  Der König und die Berater und Ärzte des alten Hofstaats sind als übermäßig dicke, manchmal kaum noch bewegungsfähige Charaktere kostümiert, wobei alle Akteure neben den gesanglichen Leistungen mit liebevoller, jeweils individuell ausgeprägter Komik agieren, die nie statuarisch oder allzu typisierend wirkt. Da wird eine sehr empathische und mit den einzelnen Künstlern erarbeitete Personenführung sicht- und spürbar, die auch erlaubt, dass der eine oder andere an besonders komischen Stellen seinem Affen Zucker gibt und ordentlich auftrumpft – und das beherrschen alle hervorragend und mit Freude.

Allen voran brilliert in seiner schauspielerischen Komik Jörg Sabrowski als alternder, schon einigermaßen debiler, immer essender König. Dem umfangreichen, ausnahmslos glücklich besetzten Sängerensemble kann man hier nicht im Detail gerecht werden. Hervorgehoben seien wenigstens Samuel Chan als der Berater des Königs Pantalone und Luftgeist Farfarello, die Bösewichter Cristina Melis als Prinzessin Clarice sowie der Premierminister Leander von Thomas Hall. In ausdrucksstarker Kostümierung außerdem Zauberin Fata Morgana von Vera Egorova sowie der Zauberer Celio von Mathieu Abelli. Eine Köchin der eigenen Klasse liefert Sergey Stepanyan ab.

Unvergleichlich auch der tragikomische Prinz von Michael Müller-Kasztelan, dem eine Studie als tapsig-trotzig-kindlicher Prinz aus Uraltadel gelingt, ohne den gesanglichen Part der nicht leichten Tenorpartie im mindesten zu vernachlässigen. Seine zukünftige Prinzessin Ninetta gibt Mengqi Zhang.

Und dann natürlich die Kinder der Akademien am Theater Kiel, die mit ungeteilter, ungestümer Spielfreude Teil der Oper sind, als ob diese für sie komponiert wurde.

Das Philharmonische Orchester Kiel unter der engagierten Leitung von Generalmusikdirektor Benjamin Reiners ist nicht im Orchestergraben, sondern auf der Hinterbühne platziert. Das mag auch der Durchhörbarkeit der fein tarierten Orchestergruppen der anspruchsvollen Partitur zugutekommen, die so sehr überzeugen. Reiners gelingt es zudem, selbst aus dieser schwierigen Anordnung die Balance zwischen Gesang und Orchesterspiel jederzeit glänzend zu wahren.

Das Publikum im ausverkauften, aber immer noch nur teilbesetzten Haus hat großen Spaß, amüsiert sich prächtig und lässt im langen Applaus die Künstler an ihrer Freude teilhaben.

Es wäre zu wünschen, dass diese Produktion auch nachmittags gezeigt wird oder womöglich zumindest in Ausschnitten an Schulen, so dass auch andere Kinder auf diese Weise ihre womöglich erste Begegnung mit der Oper erfahren können. Diejenigen, die schon bei der Premiere dabei sind, haben vor Erstaunen gequiekt, gekichert, und laut gelacht, was wohl die schönste und dankbarste Reaktion und Bestätigung für die Mitwirkenden ist.

Achim Dombrowski