Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
CARILLON-KONZERT
(Diverse Komponisten)
Besuch am
13. Januar 2025
(Einmalige Aufführung)
Herrenberg liegt mitten in Baden-Württemberg, etwa 30 Kilometer südwestlich von Stuttgart und 20 Kilometer von Tübingen in westlicher Richtung entfernt. Um die 32.000 Einwohner umfasst die Große Kreisstadt im Landkreis Böblingen, von denen sehr viele bei einem nahegelegenen Autobauer beschäftigt sind. Für den Besucher besonders eindrucksvoll ist die Altstadt, die von Fachwerkbauten geprägt ist und am Hang des Schlosshügels eingebettet ist. Über ihren Dächern erhebt sich die Stiftskirche. 1276 bis 1293 und 1471 bis 1493 erbaut und vollendet, wurde die dreischiffige Hallenkirche von 1972 bis 1982 umfangreich saniert und ist heute die älteste Anlage dieser Art in Schwaben. Im Turm wurde 1990 ein Glockenmuseum eröffnet, das sich dadurch auszeichnet, dass es „lebt“. Seit 1986 nimmt der Glockenturm neben den damals existierenden fünf Herrenberger Glocken historische und moderne Glocken auf, die Besucher buchstäblich hautnah in Betrieb erleben können – wenn das Glockenmuseum wieder geöffnet ist. Derzeit ist es aufgrund mangelhaften Brandschutzes geschlossen und kann nur für kleine Besuchergruppen unter Haftungsausschluss zugänglich gemacht werden. 27 läutbare Glocken sind dort in zwei Ebenen aufgehängt.
Ekaterina Porizko und Chaewon Hwang im Übungszimmer – Foto © Michael Zerban
Betreut wird das Glockenmuseum maßgeblich von der Herrenberger Bauhütte. Das sind heute etwa 22 ehrenamtliche Handwerker, die die Tradition der 1992 gegründeten Werkstatt aufrechterhalten, erzählt Burkard Hoffmann, Erster Vorsitzender des Vereins zur Erhaltung der Stiftskirche Herrenberg. Die Bauhütte, heute unter Leitung von Andreas Rodewald, ist dem Verein angeschlossen und trägt, vor allem durch den Verkauf selbsterstellter, künstlerischer Produkte, zur Finanzierung bei. Stolz zeigt Hoffmann bei einem Rundgang nicht nur die Glocken in Betrieb, sondern auch das 50-stimmige Carillon, das sich seit 2012 in einer Stube unmittelbar unter der Turmspitze befindet.
Ein Carillon ist ein Spieltisch für mindestens 23 Glocken, der über Züge mit den Glockenklöppeln verbunden ist und so ihre manuelle Bespielbarkeit erlaubt. In Deutschland gibt es rund 50 Carillons und um die 300 Glockenspiele verschiedener Größenordnung. Damit nimmt es eine eher unbedeutende Rolle ein. Die Niederlande glänzen mit 806 Glockenspielen, in Belgien gibt es in nahezu jeder Stadt ein Carillon. Um ein Carillon zu bespielen, bedarf es der Ausbildung und der Übung. Das weiß auch Ekaterina Porizko, die als künstlerische Leiterin in Stuttgart und dem nahegelegenen Esslingen Carillon-Festivals veranstaltet.
Burkard Hoffmann in der Bauhütte – Foto © Michael Zerban
Im zurückliegenden Semester hat die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart Porizko als Gastdozentin eingeladen, um das Seminar Carillon und Turmglockenspiel durchzuführen. Die Veranstaltungen fanden im Stuttgarter Rathaus und in der Stiftskirche Herrenberg mit fünf Teilnehmern statt. Jetzt treffen die sich in Herrenberg, um zum Abschluss des Seminars ein Konzert zu veranstalten. Dem eigentlichen Ereignis geht eine letzte Übungseinheit im Einzelunterricht voran, die an einem Übungstisch im ehemaligen Archiv der Kirche, das über eine enge Wendeltreppe in der Ecke zwischen Orgel und Altarraum erreichbar ist. Hierher kommt auch Chaewon Hwang, Studentin der Schul- und Kirchenmusik und Teilnehmerin am Master-Studiengang Orgel. Sie kann zwar nicht am Konzert teilnehmen, möchte aber gern noch die Gelegenheit nutzen, Bearbeitungen von Tschaikowskys Tanz der Zuckerfee aus seiner Nussknacker-Suite und Djingle Bells einzuüben. In dem kalten Raum werden die Klöppel des Instruments – Tastaturen sind eher selten – mit Handschuhen bearbeitet.
Viel wärmer ist es auch nachmittags um fünf nicht, als sich die Studenten am Carillon unter der Turmspitze versammeln. Den vier angehenden Carilloneuren scheint die Temperatur nichts anzuhaben, vielleicht ist auch die Vorfreude zu groß, um die äußeren Umstände überhaupt wahrzunehmen. Wenigstens Porizko hat sich in einen dicken Wintermantel eingehüllt und ein Stirnband über die Ohren gezogen. Den Anfang übernimmt Toni Ulrich, Komponist und Organist, der als Gast-Student eigens aus Düsseldorf angereist ist, mit Name des Gottes sei im Himmel gelobt von Dmitry Bortniansky in einer Bearbeitung von Jo Haazen und der Etüde in A-Dur von Haazen selbst. Haazen ist einer der weltweit führenden Carilloneure und Ehrendirektor der Royal Carillon School „Jef Denyn“ im belgischen Mechelen, der ältesten Bildungseinrichtung für Carillon. Er ist außerdem Professor für Orgel, Carillon und Cembalo an der St. Petersburger Universität.
Ekaterina Porizko, Toni Ulrich, Simon Müller, Lea-Maria Gunther und Leonhard Hell – Foto © Michael Zerban
Auch Lea-Maria Gunther, Bachelor-Studentin der Schul- und Kirchenmusik, greift auf Bearbeitungen von Haazen zu, wenn sie anschließend die Volkslieder Auf der grünen Wiese und Annemarieke interpretiert. Dem außenstehenden Hörer vermag sich nicht so recht zu erschließen, woher die Carilloneure ihre Begeisterung beziehen. Denn sie können die großartigen Klänge, die sich über der Stadt, na, zumindest der Altstadt, ausbreiten, nur undeutlich vernehmen, übertüncht vom Surren der Züge und Rückschlagen der Klöppel. Da braucht es wohl schon reichlich Fantasie, um die Wirkung des eigenen Spiels zu ermessen. Zudem ist ein „flottes“ Spiel am Carillon eher relativ, auch wenn das für die beiden nachfolgenden Spieler gerade der Ansporn zu sein scheint. Für seinen Einsatz wählt Leonhard Hell, Glockenspieler des Esslinger Rathauses und Gast-Student im Seminar, Bearbeitungen von Eckart Hirschmann aus. Carilloneure können sich noch so sehr bemühen: Sie sehen bei der Arbeit nicht annähernd so elegant wie beispielsweise Pianisten aus, wenn sie mit flachen Händen oder locker geschlossenen Fäusten die vergleichsweise weit auseinanderliegenden Klöppel nach unten drücken. Das gilt auch, als Hell Ode an die Freude von Ludwig van Beethoven und das Preludium aus dem Te Deum in D-Dur von Marc-Antoine Charpentier vorträgt. Das gelingt vortrefflich.
Simon Müller, Student der Schul- und Kirchenmusik im Master-Studiengang Orgel, setzt noch einen drauf, wenn er mit der eigenen Komposition eines Choralpräludiums über Wie schön leuchtet der Morgenstern beginnt. Die vorgesehenen Läufe bekommt er zwar hin, aber nicht in der Geschwindigkeit, in der er sie möglicherweise an der Orgel erklingen lässt. Müller trägt es mit Fassung und freut sich am berechtigten Applaus der Anwesenden und dem Lob der Lehrerin. Mit einer Etüde schließt er das Programm der Studenten. Porizko ist das letzte Stück vorbehalten. Es ist ihre selbstkomponierte Carillon-Suite, mit der sie in der Turmstube einen Begeisterungssturm erntet.
Über die Dächer der Stadt hat sich nicht nur für einen Moment der Glanz der untergehenden Sonne gelegt, sondern auch ein ganz besonderes Glockenklangerlebnis. Ein würdiger Abschluss des erstmalig durchgeführten Seminars. Der kleine Beigeschmack ist an diesem frühen Abend vergessen. Es weiß noch keiner, ob es eine Fortsetzung des Seminars geben wird. Dabei stünde es der Stuttgarter Musikhochschule gut zu Gesicht, auf diesem so öffentlichkeitswirksamen Feld der Musik eine Vorreiterstellung in Deutschland einzunehmen. Und so gute Carilloneure wie die Nachwuchsmusiker in Herrenberg kann Deutschland sicher noch mehr gebrauchen.
Michael S. Zerban