O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sandra Then

Aktuelle Aufführungen

Ungeplante Händel-Sternstunde

TRIONFO. VIER LETZTE NÄCHTE
(Georg Friedrich Händel)

Besuch am
19. September 2020
(Premiere)

 

Staatsoper Hannover

Seit über 40 Jahren gibt es eine weitweite Händel-Renaissance, und man mag denken, dass es gar nicht so einfach ist – nach so vielen kreativen Produktionen der letzten Jahrzehnte – heute aufsehenerregende Neudeutungen seiner Werke auf die Bühne zu bringen. Doch Hannover tritt souverän den Gegenbeweis an und ergreift sein Publikum in einer Corona-bedingt relativ kurzfristig geplanten Produktion nach Händels Il Trionfo del Tempo e del Disinganno.

Regisseurin Elisabeth Stöppler und Dramaturg Marin Mutschler sind sich der in der Entstehungszeit des Werkes 1707 in Rom gegebenen, von der katholischen Kirche verordneten moralischen Sendung und Begrenzungen wohl bewusst. Die Stadt stand unter einem strikten Kompositions- und Aufführungsverbot von Opern, nachdem ein Erdbeben als Strafe Gottes für das sündige Leben der Menschen interpretiert wurde und eben gerade die Oper als lustbetontes Vergnügen jener Zeit als wesentlicher Auslöser für allerlei Lasterhaftigkeit bezeichnet wurde.

Die Arbeit an dem dann notwendigerweise in Auftrag gegeben Oratorium hielt Händel jedoch nicht davon ab, das menschliche Wesen und dessen Gefühle zu erforschen und in Musik zu fassen, wie er sie in seinen späteren Opern wieder und wieder zu neuen Höhepunkten formte.

Stöppler und Mutschler lassen die vier in Allegorien wandelnden Oratorienfiguren aus ihrem traditionell-religiösen Umfeld treten und präsentieren mit grandiosen Sängerdarstellern stattdessen Menschen von heute mit ihrer aus der Isolation geborenen Lebenskrise. Und das in der Atmosphäre einer in ihrer Existenzialität bedingten letzten Nacht.

B. – für die Allegorie Belezza – ist eine Frau mit Mann und Kind, eigentlich glücklich, zweifelt jedoch, ob sie wirklich gelebt hat und weiß, wer sie ist. P. – Piacere – ist vergeben und eigentlich lebensfroh, hat aber soeben von ihrer Diagnose Brustkrebs erfahren. D. – Disinganno – ist Autor, der sich aus dem Leben zurückgezogen hat und von außen die Welt interpretieren will, was er aber als Fehler wahrnimmt und nun Angst vor den Menschen hat. T. – Tempo – fühlt sich im falschen Körper als Mann geboren, ist weit glücklicher, „sie“ zu sein, weiß aber nicht, wo der Weg hinführen wird. Die Situationen der Personen werden in kurzen Texten in Übertiteln vermittelt. Zudem zeigen Szenen im ersten Teil des Abends sie in einigen wenigen, vom Schnürboden herabsinkenden, typischen Alltags-Versatzstücken, die sie zeitweise wie Ballast umgeben. Alle vier stehen, spielen, singen nebeneinander und die Musik Händels in der Folge der Arien scheint wie gemacht für die Erkundung der individuellen Seelenräume der Verlorenheit.

Foto © Sandra Then

Weitere Individualisierung erhalten die Personen durch ihre Sprache. An einem dramaturgischen Höhepunkt des Abends brechen sie nach all dem Schwanken zwischen Melancholie und Hoffnung der Händelschen Musik schließlich in Sprechen aus, um der Verletzlichkeit ihres Seelenlebens Ausdruck zu verleihen: Siehe, ich habe den Mut, über meine Probleme vor die zu sprechen, mich vor die dazu zu bekennen. Die vier Sänger und Sängerinnen wählen dazu ihre Heimatsprache: Englisch, Xhosa, Niederländisch und Italienisch. Das klingt einfach, fast banal, ist jedoch handwerklich so gut gesetzt, dass dem Zuschauer das Herz zuschnürt. Wie überhaupt für den gesamten Abend gilt: Timing und mustergültiges Handwerk prägen in all ihrer äußerlichen Einfachheit und Klarheit diesen großen Theaterabend.

Die Entwicklungsstadien der Personen werden in Bild und Bewegung mit stupender Einfachheit visuell geformt. Im mittleren Teil der Produktion steigen alle Darsteller in den Bühnenuntergrund. Der wird sodann hochgefahren und zeigt die vier Charaktere in einer weiteren Phase der Selbsterkundung unter diversen Anordnungen von Leuchtstoffröhren, die ihre Farbe wechseln wie die Übersetzung der Stimmungslagen der handelnden Protagonisten. Intensität und Unruhe werden mit den minimalistischen Lichteffekten größer, bis die vier Personen wieder emporsteigen zu einer endlich erworbenen Ruhe, deren Ausdruck sich in einer unendlich zarten Begegnung mit der Transzendenz des Chorgesangs verbindet.

Jedoch wird niemals auch nur ansatzweise eine Lösung gefunden. Vielmehr bleibt die Ungewissheit über den weiteren Weg des Lebens bei allen Akteuren erhalten. Vielleicht gelingt es, die Unsicherheit des eigenen Schicksals besser anzunehmen. Der Ausbruch aus der Isolation bleibt fraglich. Die sprachlose Hinwendung und Empathie der Darsteller für die anderen Protagonisten im weiteren Verlauf des Abends entsteht nur – angstvoll und unsicher – im Ansatz.

Und diese Sänger können das – nicht nur stimmlich – wirklich gestalten: Die irische Sopranistin Sarah Brady als B., die ihren Ausdruck in zarter Stimmgebung – wie zu ihrem eigenen Kind sprechend – formt.  Die ihre ganze Lebenslust ausstrahlende, ungemein junge Holländerin Nina van Essen als P., deren Wut und Verzweiflung über ihre Todkrankheit so herzzerreißend wirkt, und deren Entwicklung zu Trauer und Ruhe sie in einem atemberaubenden Spannungsbogen durchzuhalten vermag.

Der einzige Gast unter den Sängern des Abends ist Countertenor Nicolas Tamagna als D., der die Verzweiflung seines eigensinnigen, selbst verordneten Weges in die Vereinzelung  melancholisch besingt und schließlich Sunnyboy Dladla, der die Befreiung seines coming out in einer schreiend gelben Robe feiert, in deren gewolltem Glamour er zugleich so verloren wie nie zuvor erscheint.

Dirigent und Barockspezialist David Bates entfacht mit dem Niedersächsischen Staatsorchester Hannover einen lichten, durchhörbaren, engagierten Klang, der die Dimensionen der Musik in allen Facetten ausleuchtet.

Der Chor der Staatsoper Hannover unter der Leitung von Lorenzo Da Rio singt seinen Part gelungen aus der Höhe der Zuschauerränge.

Das Publikum feiert den Abend mit langanhaltendem Applaus für alle Beteiligten, insbesondere für die Sänger und das Orchester. Jedem der Besucher ist klar, dass er Teil eines großen Theaterabends ist, dessen aktuelle Bedingtheit durch Corona nichts von seiner Größe nimmt. Und für einen Moment vergisst man, dass man in einem so leeren Theater sitzt.

Achim Dombrowski