O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sandra Then

Aktuelle Aufführungen

Revolution ohne Ideale

LE NOZZE DI FIGARO
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Besuch am
20. Januar 2022
(Premiere)

 

Staatsoper Hannover

In der auf dem Schauspiel Beaumarchais beruhenden Handlung von Figaros Hochzeit erlebt man den Kampf des Dienerpaares – Susanna und Figaro – um die Erlaubnis des Grafen für ihre Hochzeit. Der verweigert seine Zustimmung in der Hoffnung, Susanna zuvor selbst noch zu erobern. Wesentlicher Motor der Dynamik ist dabei die Komplizenschaft Susannas mit der Gräfin, will die doch die Untreue ihres Mannes – des Grafen – durch eine fingierte Einladung Susannas und Kleidertausch mit ihr beweisen, ihn entlarven und bloßstellen. Die Verkleidungsintrige gelingt. Der Graf zeigt sich reuig. Aber existiert die alte Liebe zur Gräfin noch und hat sie Bestand?

Schauspiel wie Oper wurden zurzeit der Entstehung 1786 dramaturgisch so geformt, dass sie die Zensur passieren konnten, zumindest zeitweise. Die Konnotationen des Aufbegehrens gegen das alte Regime wurden in Europa wohl verstanden. Wenn nun alle angestrebten Freiheiten, um die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so gerungen wurde, existieren, was kann uns Mozarts und da Pontes Meisterwerk neben einem historischen Rückblick heute noch vermitteln?

In Lydia Steiers Neuinszenierung sind die Personen der Handlung durchgehend in erster Linie auf sich selbst fixiert. In den Arien verhandeln sie ihre Sichtweise in ihrer jeweils ganz eigenen Singularität. Die Lichtregie von Elana Siberski unterstützt sie dabei in stets wechselnder Szenerie. Die oft durch dunkles Licht getragene Bühne von Momme Hinrichs verengt sich immer dann, wenn mehrere Personen aufeinander Einfluss zu nehmen versuchen. Dabei kommen sich die Akteure dennoch nicht näher. Sie bleiben Einzelschicksale in durch Einzelinteressen getriebenen Aktionen.

Das gilt insbesondere für Susanna und den Grafen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen zunehmend außerhalb des Geschehens stehen. Susanna ist Außenseiterin. Nicht einmal ihrem Gemahl in spe Figaro steht sie wirklich nahe. Sie irritiert das aggressive Treiben der anderen zunehmend. Immer wieder verlässt sie das Zentrum der Bühne, um staunend und unverständlich von außen die anderen Personen zu betrachten.

Der Graf hingegen wird durch die einsetzenden Geschehnisse der Revolution – die sich mehr und mehr konkret abzeichnet – an den Rand seiner Existenz und der Gesellschaft getrieben. Auch er versteht die Welt nicht mehr. Susanna und der Graf haben insoweit dieselbe Sichtweise auf ihr Umfeld. Sie begegnen sich in diesem Verständnis zunehmend und beginnen Empfindungen füreinander zu entwickeln. Und dennoch kommt es nicht zu einer persönlichen Annäherung. Die potenziellen Partner scheitern noch immer an den alten Ritualen und Standesgrenzen.

Wie auch in Così fan tutte – dem späteren Meisterwerk in der Zusammenarbeit von Mozart und seinem Textdichter da Ponte – kommt es zu einem schein-versöhnlichen Ende mit der bitter-ironischen Wiederherstellung einer fragilen, ursprünglich eingespielten Paarkonstellation, die nicht mehr trägt.

In Steiers Interpretation des Figaro wird diese zweifelhafte Wiederherstellung von Paarbindungen zusätzlich auf die gesellschaftlichen Ebenen von Adel und Dienerschaft gehoben. Grafen- und Dienerpaar finden sich nach allem komödiantischen Verwirrspiel in den alten Verbindungen scheinbar wieder. Aber diese Konstellationen sind weder im persönlichen noch gesellschaftlichen Rahmen tragfähig.

Die Kostüme von Alfred Mayerhofer unterstützen dieses Bild ganz maßgeblich und überzeugend. Die Personen sind in überdehnten Rokoko- oder gewissermaßen Schmuddelbarock-Roben unterwegs mit stets staubenden, übergroßen und sichtbar angegammelten Perücken. Cherubino erscheint in seiner entrückten Liebesträumerei wie aus den Kostümwelten vergangener Barockopern.

Hier wird ganz klar: Eine Revolution wird unweigerlich die Verhältnisse verändern. Aber durch was? Keiner der Akteure handelt, um das ideale Ziel einer glücklicheren Paarbeziehung oder einer besseren Welt zu erreichen. Es herrscht allenthalben lediglich Überdruss und Frustration mit den bestehenden Verhältnissen und Umständen bei zunehmender Aggressivität.

Ein Umsturz ohne Ideale für die Zukunft. Welche Zukunft mag daraus entstehen? So wie zur Zeit Mozarts den Menschen im wirbelnden Verlauf der Geschichte Position und Ziel der Entwicklung nicht klar sein konnte, so wenig vermögen wir heute selbst zu wissen, wo wir in der uns umgebenden, aktuellen Entwicklung stehen. Dem Betrachter ist es überlassen, zu welchen Elementen er aktuelle Parallelen ziehen will – Ansatzpunkte gibt es genug.

Besonders überzeugend die Doppelung der Szene, in der der Graf eigentlich erst ganz am Ende die Gräfin um Verzeihung bittet, die sie annimmt. Dieser Teil wird zunächst von allen Beteiligten schon zu Beginn und noch vor der Ouvertüre gesungen. Das wirkt wie die gleichsam religiöse Beschwörung der Stabilität schon lange fragiler Verhältnisse. Die Takte werden dann im vierten Akt nach einem langen Aussetzer des verzweifelten und im Wortsinne heulend zusammenbrechenden Grafen erneut von allen vorgetragen. Die stotternd einsetzende Musik der Versöhnung entlarvt die Unhaltbarkeit dieser nur scheinbar glücklichen und doch verlogenen Lösung.

So offen unbestimmt und düster in Bild und Inhalt konnte man den Figaro noch nicht erleben. Dem Zuschauer bleibt bei allem perfekt komödiantischen Spiel – mit teilweise deftigem Zugriff – immer wieder das Lachen im Halse stecken. Wahrhaft ein gelungener neuer Blick auf die oberflächlich so unterhaltsame und scheinbar nur historische Figaro-Erzählung.

Foto © Sandra Then

Die musikalische Seite der Aufführung besticht maßgeblich durch das souveräne Dirigat von Giulio Cilona. Die Tempi sind extrem schnell genommen. Dabei wird jedweder überzogene Hochdruck oder eine etwaige Atemlosigkeit der Sänger oder Orchestermusiker vermieden. Vielmehr gelingt eine Dynamik in Spiel und Gesang, die die komisch-verwirrenden mit den verstörenden Elementen des Geschehens auf überraschende Weise verbinden. Es ist frappierend zu hören, dass eine solche hohe Meisterschaft von den Solisten und vom Orchester den gesamten Abend über durchgehalten werden kann. Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover übertrifft sich hier selbst.

Das Sängerensemble überzeugt durchgehend. Germán Olvera als Graf weiß die Höhen und Tiefen der anspruchsvollen Partie gesanglich wie darstellerisch  genauso überzeugend zu gestalten wie Kiandra Howarth die Gräfin, die sich in ihrer zweiten Arie im Gegensatz zu Inhalt und Emotion von Susanna als ihrer Kammerzofe unwillig und apathisch waschen lässt. Überhaupt wird die Gräfin durchwegs in tiefer Depression und Passivität gezeichnet, die über weite Strecken unter Alkoholeinfluss kaum noch zu einem eigenen Impuls oder einer Aktion fähig erscheint.

Sarah Brady als alles überragende Susanna hält die Zügel der gesamten Inszenierung souverän im Griff, während Richard Walshe als Figaro markante, aggressive Schwerpunkte setzt.

Immer wieder gibt es in Corona-Zeiten heimliche Helden auf der Bühne: An diesem Abend rettet Iris van Wijnen als extrem kurzfristig eingesprungene Marcellina gesanglich souverän und darstellerisch klug den Abend. Alle weiteren Rollen sind mehr als angemessen besetzt und stützen das Niveau der hoch-dynamischen Aufführung.

Der Chor der Staatsoper Hannover unter Leitung von Lorenzo Da Rio überzeugt nicht nur durch die gesangliche Leistung, sondern insbesondere auch im aggressiven Spiel im Finale des dritten Aktes, wo die Aggression der Dienerschaft die Dimensionen von Gewalt und Umsturz klar erkennen lässt.

Das Publikum feiert die Mitglieder des gesamten Teams, allen voran die Sänger-Protagonisten der Hauptrollen. Auch das Regie-Team wird uneingeschränkt bejubelt.

Nach der schon äußerst gelungenen Così fan tutte in der letzten Spielzeit, fehlt in Hannover jetzt ein neuer Don Giovanni zur Vervollständigung eines neuen fulminanten Mozart-da-Ponte-Zyklus.

Achim Dombrowski