O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sandra Then

Aktuelle Aufführungen

Mechanismen fanatischer Rechtgläubigkeit

LA JUIVE
(Fromental Halévy)

Besuch am
14. September 2019
(Premiere)

 

Staatsoper Hannover

Wer auch immer schon das Gefühl hatte, für den Besuch einer Grand Opéra wegen der gefühlten Länge eine zweite Lebenszeit mitbringen zu müssen, sollte sich diese Produktion ansehen. Zum einen wird die Handlung unter wohltuender Weglassung allen überflüssigen Beiwerks auf rund dreieinhalb Stunden gestrafft, zum anderen wird das hochaktuelle Thema der religiösen und politischen Fanatisierung in einer pluralen bürgerlichen Gesellschaft spannend auf den Punkt gebracht.

Die Textvorlage der 1835 uraufgeführten Oper La Juive von Fromental Halévy stammt aus der bewährten „Librettofabrik“ von Eugene Scribe, der seinerzeit solcherlei Vorlagen wie am Fließband produzierte und den Stoff ursprünglich Meyerbeer angeboten hatte, der jedoch ablehnte, vermutlich weil er mit anderen Kompositionen beschäftigt war.

Die Handlung vereint nicht ganz unbekannte Muster der Engführung politischer oder religiöser Ideologisierung und Fanatisierung mit dem Schicksal von Individuen, hier Vätern zweier ermordeter Söhne und einer tot geglaubten Tochter, sowie eines durch die vermeintliche Grenze der Religion nicht zueinander gelangenden Liebespaares. Verdis Troubador ist nur eines der vergleichbaren Szenarios, die einem in den Sinn kommen.

Das Werk steht in Hannover um ersten Mal nach rund 90 Jahren wieder auf dem Spielplan. Die Inszenierung der Regisseurin Lydia Steier und ihres Teams versetzt den Zuschauer über die fünf Akte der Oper auf eine in Teilen mit bitterem Humor garnierte Zeitreise durch verschiedene Länder und Jahrhunderte: Sie beginnt in den 50-er Jahren in den USA des 20. Jahrhunderts, gelangt über Deutschland 1929, Württemberg 1738, Granada 1492 schließlich zum Kirchenkonzil nach Konstanz im Jahre 1414, eigentlich Zeit und Ort der Textvorlage des Werkes.

Die geschlossene Handlung wird fast unmerklich über diverse Situationen und Zeitalter gesplittet und bietet doch immer das gleiche Ergebnis eines Scheiterns vermeintlich pluraler höfischer oder bürgerlicher Gesellschaften im Umgang mit Minderheiten. Sie zeigt eindrucksvoll die Folgen des Akzeptanz-Versagens bei Minderheiten, insbesondere in fanatisch aufgeladenen Zeiten. Die Widersprüche werden über den Verlauf der Handlung nicht aufgelöst, sondern vielmehr fortwährend qualvoll aufrechterhalten. Die Hoffnung auf eine befreiende Utopie kommt gar nicht erst auf. Der aktuelle Bezug liegt auf der Hand.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Trotz dieses starren, alternativlosen Ausgangs gelingt es Steier zusammen mit Momme Hinrichs, der für Kostüme und die außerordentlich sensiblen, zurückhaltenden Videoeinspielungen verantwortlich zeichnet, ein unterhaltsamer Abend, ganz im Sinne des von der Grand Opéra angestrebten Unterhaltungswertes. Allerdings bleibt einem stets und unentwegt das Lachen im Halse stecken.

Dabei ist nicht vollständig in Worte zu fassen, wie uns die Regisseurin und ihr Team den Abend über in Bann hält. Dazu gehören ohne Zweifel die eindrucksvollen und überaus suggestiven Bildwelten, mit denen wirkungsvoll der jeweilige Zeitgeist der betreffenden Periode erfasst wird, wie zum Beispiel im dritten Akt die in Kostümfarben und Manieren durchgeknallte Welt des Adels am Württembergischen Hof um 1738. In jedem Bild entsteht sodann eine unterschwellige Sogwirkung zum Verderben. Für die Regisseurin ist denn auch „… das Tor zur Hölle aus Marzipan …“

Eindrucksvoll auch die wiederholte Mitwirkung von Kindern, die ganz offensichtlich durch ihre Prägung schon in jungen Jahren Erniedrigung und Gewalt an andersartige Gleichaltrige weitergeben.

Foto © Sandra Then

Grandios das Sängerensemble, das weitgehend aus Stimmen des Ensembles besteht. Rachel, Tochter des Juden Eleazar, wird von Hailey Clark mit leidender Hingabe und hohem Ausdruck gegeben. Den Vater singt der nach Jahren an das Hannoveraner Haus zurückkehrende Zoran Todorovich mit höchster Intensität. Seine Seelenqualen werden insbesondere in den letzten Bildern für den Hörer nahezu physisch greifbar.

Matthew Newlin, ein aufstrebender, junger Tenor, gibt als Gast mit Hingabe sein Debüt als Prinz Leopold. Im ersten Akt kommt ihm seine Spielfreude bei der hüftschwingenden Arie im Stil der amerikanischen 50-er Jahre entgegen. Die Anforderungen der Partie auch an die Höhen sind erheblich, und Newlin meistert sie im Verlauf des Abends zunehmend souveräner. Ebenso präsent und außerdem souverän koloratursicher präsentiert sich Mercedes Arcuri als Prinzessin Eudoxie.

Einen besonders starken Eindruck hinterlässt Shavleg Armasi als Kardinal Brogni. Die durch die Vorgeschichte des Dramas gebrochene Gestalt bringt Armasi als Kardinal unter Seelenqualen mit erdrückender stimmlicher Präsenz und Charakterisierung zum Ausdruck. Pavel Chervinky und Hubert Zapior als Mitglieder des Hannoveraner Ensembles runden das Solistenensemble mehr als zufriedenstellend ab.

Der Chor unter der Leitung von Lorenzo Da Rio wirft sich mit Verve in die großen Choraufgaben, die auch darstellerisch im Kollektiv bravourös gemeistert werden.

Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter der Leitung von Constantin Trinks spielt mit satten Farben, und doch durchwegs durchsichtig auf. Das gilt auch und insbesondere für die anspruchsvollen Horn- und Blechbläsersoli und -ensembles.

Wenn denn die immanente Botschaft des Werkes keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft des menschlichen Zusammenlebens verspricht, so erreicht die Aufführung eine nachgerade utopische Umsetzung menschlicher Diversität auf einer ganz anderen Ebene: Allein die sieben großartigen Solisten stammen aus sieben verschiedenen Ländern: Usbekistan, Serbien, USA, Argentinien, Georgien, Russland und Polen. Die musikalische Leitung hat ein deutscher Dirigent. Die Oper war eben schon immer Spitzenreiter der Globalisierung mit gelungener Mehrstimmigkeit in der menschlichen Begegnung.

Großer Jubel im Publikum. Das Orchester wird schon bei Rückkehr des Dirigenten nach der Pause mit donnerndem und demonstrativem Applaus gefeiert. Der Beifall am Schluss steigert sich zu standing ovations für alle Beteiligten, einschließlich des gesamten Regieteams.

Ein großartiger Saisonstart und zugleich überaus gelungener Beginn der neuen Intendantin Laura Berman an der Oper in Hannover.

Den Besuch einer der folgenden Vorstellungen sollte daher niemand verpassen, der eine zeitgemäße Realisierung eines auch heute erschütternden Musiktheaterwerks erleben will.

Achim Dombrowski