O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sandra Then

Aktuelle Aufführungen

Carmens neuer Kosmos

CARMEN
(Georges Bizet, Marius Felix Lange)

Besuch am
24. Oktober 2020
(Premiere)

 

Staatsoper Hannover

Eine Inszenierung von Carmen ist heute nur sinnvoll, wenn der neue Wurf möglichst weit weg vom etablierten, romantisierenden Klischee der vergangenen Jahrzehnte aufsetzt. Hannover ist dabei einen weiten Weg gegangen. Die Konzeption spürt sensibel und in vielen Facetten dem kosmischen Geheimnis Carmens und ihres so anziehenden wie rätselhaften Freiheitsgefühls nach. Der Komponist Marius Felix Lange hat dazu eine zunächst durch die Corona-Problematik bedingte Neufassung mit angepasster Orchestrierung komponiert. Lange beschäftigt sich mit Kompositionstechniken und Klangmodulationen verschiedener Weltregionen, zum Beispiel aus Afrika, aber auch Andalusien. Die Faszination, die sich für ihn aus solchen musikalischen Begegnungen ergeben, hat er nun für die Oper in Hannover in einer Carmen-Adaption verarbeitet.

Das Orchester besteht aus 21 Musikern und wird ganz wesentlich durch zwei Schlagzeuger geprägt, die unter anderem Vibraphon, Marimbaphon und Röhrenglocken spielen. Sämtliche Chorauftritte entfallen. Speziell die neu komponierten Musikanteile haben oft einen schwebenden, irrealen Charakter – sehr im Gegensatz zu den Klangballungen und Knalleffekten der ursprünglichen Carmen-Partitur. Dabei kommen die bekannten Hits einerseits nicht zu kurz, aber insgesamt wird die Oper auf einen pausenlosen Abend von rund zwei Stunden Länge gekürzt. Das wird in Teilen mit geschickten musikalischen Kürzungen oder Überblendungen erreicht.

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Regisseurin Barbora Horáková hat zusammen mit dem Dramaturgen Martin Mutschler und in Zusammenarbeit mit dem Komponisten eine Fassung mit veränderten Texten und inhaltlich gestraffter und auf die inhärenten Gewaltpotenziale fokussierter Handlung, geschaffen. Dabei wird multi-lingual gearbeitet: Über weite Strecken – und bei vielen der bekannten Hits der Oper – wird im französischen Original gesprochen und gesungen. Beigemischt in den Dialogen ist außerdem Baskisch und an ganz entscheidender Stelle Caló, eine Sprache, die die südspanischen Gitanos gesprochen haben sollen. Daneben gibt es auf deutsch, von Ensemblemitgliedern des Schauspiel Hannover gesprochene Spracheinblendungen, die die individuellen, sehr voneinander distanzierten Gedanken- und Lebenswelten von Carmen und Don José an zentralen Weggabelungen der Handlung beleuchten.

Die Szene von Thilo Ulrich ist über weite Teile im Niemandsland einer abgewrackten Industriebrache, weit außerhalb der bürgerlichen Teile einer Stadt angesiedelt, wo sich die Outlaws der Gesellschaft nach eigenen Gesetzen begegnen. Eine Szenerie, wie sie sich inhaltlich parallel in der zeitgenössischen spanischen Literatur etwa bei Javier Cercas in Las Leyes de la Frontera wiederfindet. Die Videokunst von Sergio Verde als integraler Bestandteil dieses bewegten Bildes überzeugt ausnahmslos. Sie versteht in all ihrer eigenen, szenischen Expressivität, die Sängerdarsteller zu unterstützen und nicht optisch zu erschlagen.

Wesentlichen Anteil am atmosphärischen Gesamteindruck hat eine sechsköpfige Tanzgruppe in der Choreografie von James Rosenthal, die in ihrer Wildheit und exotischen Gebärde unter anderem den Eindruck der alles überwältigenden, urgewaltig glühenden, Mensch und Landschaft prägenden Hitze wirkungsvoll verkörpert.

In dieser sehr speziellen Zusammenarbeit von Regie, Dramaturgie, Komposition, Sprache, Szene, Video und Tanz entsteht so ein Carmen-Kosmos, der einen neuen Zugang zum Werk eröffnet. Nachdem Regisseur Dmitri Tcherniakov in Aix-en-Provence 2017 durch eine radikale, den schein-intellektualisierten, albernen Großstadtmenschen aufs Korn nehmende Psychologisierung mit großen Sängerdarstellern bestach, bietet Hannover eine gänzlich andere, ebenso eindringliche Neuversion des Klassikers.

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Die Hannoveraner Oper wartet mit einem mehr als hörenswerten, siebenköpfigen Solistenensemble aus sechs Nationen auf. Mexiko als Herkunftsland der Sänger ist doppelt vertreten, ausgerechnet in den Kontrahenten Don José und Escamillo.

Die Carmen der Russin Evgenia Asanova spielt nach dem Prinzip der äußersten Abstinenz. Wie das schwarze Loch der Abläufe um Lulu oder Don Giovanni gibt sie das Geheimnis um sich und ihr eigenes Verhalten nicht preis. Es sind die von ihr beeinflussten und sie wie Kometen umgebenden anderen Charaktere, die die Handlung vorantreiben. Auf den Punkt kommt dieser Ansatz in ihrer auf Caló neu komponierten Arie als Ruhepunkt vor den dramatischen Zuspitzungen, die zu ihrer Ermordung führen. Ganz im Dunkel glüht der ausdrucksstarke Mezzosopran von Asanova wie ein unstillbares, zerstörerisches Feuer. Die darstellerische Zurückhaltung relativiert in keiner Weise die Wirkung ihres betörenden Stimmeinsatzes. Rodrigo Porras Garulo spielt und singt Don José mit schonungslosem Selbsteinsatz. Die Breite der stimmlichen Ausdrucksskala zwischen kraftvoller, tenoraler Strahlkraft und lyrischer Tongebung ist frappierend. Die schauspielerische Hingabe berührt. Die Usbekin Barno Ismatullaeva als Micaela avanciert mit ihrer schön geformten und ausdrucksstarken Sopranstimme rasch zum Liebling des Abends. Germán Olvera als Escamillo darf in ungebrochener Machogeste mit knallengem Lederoutfit einen kampferprobten Bewerber Carmens geben. Mercedes Arcuri, Nina von Essen und Yannick Spanier runden das Ensemble der Gitanos wirkungsvoll ab.

Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter seinem neuen Generalmusikdirektor Stephan Zilias weiß den weiten Bogen zwischen den altbekannten Schlagern und den irisierenden Klangwelten der neuen Partitur mit viel Spielfreude auszuspielen. Hervorgehoben werden müssen die Perkussionisten Daniel Townsend und Oliver Schmidt, die mit einer ganzen Reihe von ungewöhnlichen Instrumenten wie Marimbaphon und Vibraphon neue Klangwelten entstehen lassen.

Unter den wieder schwierigeren Bedingungen der Pandemie wird mitunter angstvoll die Hoffnung auf eine gewissermaßen unerwartete Weiterentwicklung in verschiedenen Lebensbereichen beschworen. Im Bereich der Oper ist Hannover nach Händels Trionfo vor wenigen Wochen der erneute Beweis gelungen, dass das funktionieren kann.

Achim Dombrowski