O-Ton

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Tod auf dem Rummelplatz

LA TRAVIATA
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
2. Mai 2023
(Premiere am 17. Februar 2013)

 

Staatsoper Hamburg

Die Staatsoper Hamburg feiert ein La-Traviata-Jubiläum der besonderen Art. Die Inszenierung von Johannes Erath besticht auch zehn Jahre nach ihrer Premiere mit ihrer dramaturgischen Ästhetik. Erfrischend klar, in keiner Phase auch nur ansatzweise ein verstaubtes Repertoirestück.

Erath übersetzt die Geschichte der Vom-Weg-Abgekommenen nicht in eine lasziv kränkliche Zauberberg-Apotheose nach Thomas Mann. Seine Inszenierung ist vielmehr vom Geist des Federico-Fellini-Kinos inspiriert. Kein Sanatorium in luftigen, gesundheitsfördernden Berghöhen jenseits der Wirklichkeit in den Niederungen der Ebene – im Libretto als Salon in Violettas Haus bezeichnet – sondern ein verlassener Rummelplatz, wo noch bierselige Feierlaune in der Luft liegt. Während die Melancholie vergangener Lustbarkeiten alles umhüllt, hallt sie als Schattenrauschen nach. Schatten als metaphorisches Vexierspiel von Gegenwart und Vergangenheit beleuchtet Olaf Reese im Verlauf der Aufführung immer wieder narrativ in enger Abstimmung mit der Inszenierungsidee.

Der Vorhang geht auf. Ein Akkordeonist spielt das Anfangsmotiv aus Verdis Oper als musikantischen Prolog. Ein Akrobat, eine Tänzerin, ein kleinwüchsiger Mann des Zirkus‘, ein Schausteller zitieren und reflektieren ein Figuren-Panoptikum in Form eines Tableau vivant, das an La Strada erinnert. Am Rand ist ein Auto-Scooter abgedeckt. Lang ist es her, dass er als Spaßmobil seinen festen Platz auf dem Rummelplatz hatte.

Im Vordergrund der minimalistischen Bühnenarchitektur von Annette Kurz liegt in einem stilisierten Grab die tote, an Schwindsucht gestorbene Violetta Valéry. Nach der Romanvorlage La Dame aux camélias von Alexandre Dumas dem Jüngeren wird in der Dramaturgie von Francis Hüsers die Geschichte vom Ende her erzählt. Mit La Traviata thematisiert Verdi erstmals musikdramatisch exemplarisch eine tagesaktuelle Geschichte um 1700. Es ist die der 23-jährigen Prostituierten Marie Duplessis. Mit ihr werden Spielarten bürgerlicher Scheinmoral in die Öffentlichkeit auf eine Opernbühne geholt.

Gianpaolo Bisanti nimmt mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg die Akkordeon-Vorlage mit einem temperamentvoll akzentuierten Italianità-Gefühl auf. Mit dezidierten Betonungen schwingen sich Dirigent und Orchester in eine empathisch szenengerechte Klangopulenz. Er dirigiert mit südlicher Empathie durchaus einverstanden und willig auf den unausweichlichen Szenenapplaus zu. Die dramatischen Stimmungswechsel von Liebe und Vertrauen sowie von Enttäuschung und Kapitulation bis zum todessüchtig vergeblich flackernden Hoffnungsschimmer klangmalt Bisanti mit fellinesker Breitwand-Audio-Optik.

Der verlassene Rummelplatz wird mit den dialogischen Fragmenten des Chors der Staatsoper Hamburg, unterstützt von einer zirzensisch spielenden Komparserie, wiedererweckt. Die durchaus schwierige Aufgabe, trotz des inszenatorisch geforderten Aktionismus präzis und punktgenau zu singen, erfüllt der Chor mit Bravour.

Aus dem Bühnenhimmel schweben Auto-Scooter herab. Laster, Lust, Vergnügen, alles, was Spaß macht, Genuss verspricht, wird vorgeführt. Amore e morte – so sollte die Oper ursprünglich heißen – die Manipulation von Frauen durch Männer, nimmt ihren Lauf. So wie es zurzeit Verdis gang und gäbe war. Und wie es auch heute, wenn auch subtiler, verdeckter immer noch nicht passé ist.

Unabhängig von der mit La Traviata seit ihrer zweiten Uraufführung 1854 weltweiten Eroberung der Opernbühnen, insbesondere durch Verdis bühnenwirksame Arien-Ohrwurm-Kompositionen, stellt sich für jede Inszenierung, wie das Menetekel der vom rechten Wege Abgekommenen interpretiert wird. Traviare aus dem Italienischen übersetzt, kann auch irreführen heißen. Erath fokussiert minutenlang das Licht der Auto-Scooter ins Publikum. Ein Gefühl einer Blendung, die zunehmend unerträglicher wird. Es wirkt wie eine Aufforderung, sich als Opernbesucher nicht aus der eigenen Verantwortung zu schleichen.

Verdi hat mit La Traviata eine Oper komponiert, die eine Nummernfolge von Arien und Duetten ist, die den dramatischen Sopranistinnen von Maria Callas bis Anna Netrebko schon immer reichlich Gelegenheit gab und gibt zu glänzen. Ruth Iniesta ist eine im Vergleich mit ihren berühmten Vorgängerinnen eher atypische Violetta. Ihre relativ kleine Körpergröße, die erst im unmittelbaren Vergleich mit den anderen Protagonisten deutlich wird, steht eine vokale Präsenz ihres in den Höhen silbrig schimmernden Soprans sowie ein in den Mittellagen die Grenzen von Mezzosopran und Alt streifende Artikulation gegenüber.

Staunenswert, wie Iniesta zu einer außergewöhnlichen Violetta-Größe von Szene zu Szene wächst. Vibrierend nach Liebe, liegt wie ein Schatten matter Traurigkeit des Unausweichlichen in ihrer Stimme. Selbst in den narrativ eingestreuten Parlando-Passagen beschwört sie mit ihrer Stimme eindringlich Violettas Not zwischen Eros und Thanatos. Am Ende verbeugt sie sich nicht nur sichtlich gerührt von dem stürmischen Applaus. Lächelnd, gleichzeitig tief durchatmend sieht man ihr an, welche Kraftanstrengung diese Violetta von ihr fordert.

In der Rolle des zwischen von seinem Vater Giorgio verordneter, patriarchaler Familienverantwortung und der Liebe zu Violetta schwankenden Alfredo überzeugt Francesco Demuro mit gestalterischer Gesangskultur. Alfredo, der sich letztlich von der scheinheiligen Moraldominanz seines Übervaters ebenso wenig lösen kann, wie er unfähig ist, in den entscheidenden Momenten die Liebe als solche zu erkennen, geschweige denn, sie zu schützen. Es ist, als führte ihn seine Stimme instinktiv so, wie es in der Partitur steht. Demuro singt Alfredo in der Pose eines Troubadours als traurigen Helden mit in sich gebrochener Grandezza.

Als Alfredo Violetta im ersten Akt seine Liebe gesteht, sie im Duett Un di felice noch auf die Chance eines gemeinsamen Glücks hoffen, schwebt schon der Todesengel über der unheilbar Erkrankten. Die Auto-Scooter heben sich wieder; machen Platz für ein neues Glück. Aber nicht wie gehofft, wird mitnichten alles gut. Herbstblätter verstreut die Windmaschine ahnungsvoll über die Bühne.

In diesem Todesspiel charakterisiert der Bariton von Andrzej Dobber den Vater Giorgio Germont mit dunkel grundierten Akzenten. Die nicht nur die Liebe von Alfredo und Violetta, sondern letztlich die beschworene heilige Familie mordende Macht-Nachtseiten des Übervaters bringt Dobber in all ihrer Widersprüchlichkeit zur Geltung.

Eraths Inszenierung gibt eine zeitunabhängige, eine für ein jedes Leben relevante Frage mit auf den Weg nach Hause: Wohin kehren wir zurück, wenn wir wieder dorthin kommen, wo wir einst zu neuen Ufern aufgebrochen sind? Eines scheint jedenfalls sicher. Nichts wird mehr so sein, wie es einst war.

Die Auto-Scooter senken sich wieder. Der Chor, fixiert als Marionetten-Figurentheater, besetzt noch einmal den Lustspielplatz. Vergeblich stößt Violetta die Rummelplatzbühne mit letzter Kraft von sich. Sie kehrt desillusioniert auf den Rummelplatz zurück und stirbt. Alfredo kommt zu spät. Game over!

Großer Applaus für einen außergewöhnlich inspirierten und inspirierenden Opernabend.

Peter E. Rytz