O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Aktuelle Aufführungen

Mondnächte mit Frauen

PIERROT LUNAIRE/LA VOIX HUMAINE
(Arnold Schönberg, Francis Poulenc)

Besuch am
11. Oktober 2020
(Premiere)

 

Staatsoper Hamburg

Pierrot Lunaire wurde von Arnold Schönberg für die Schauspielerin Albertine Zehme komponiert. Auf sie ging auch die Idee dazu zurück. Das im Oktober 1912 uraufgeführte Werk wurde von keinem Geringeren als Igor Strawinsky als „Solarplexus der Musik des frühen 20. Jahrhunderts“ bezeichnet.

Die von dem belgischen Dichter Albert Giraud stammenden Gedichte sollten ursprünglich als Sprechstimme mit Klavierbegleitung komponiert werden, Schönberg änderte die Besetzung dann in eine Kammerbesetzung mit sieben Musikern zu fünf Stimmen: Violine, Cello, Flöte, Klarinette und Klavier. Die Gedichttexte folgen keinem eindeutigen Inhalt oder Zusammenhalt. Sie verhalten sich wie der abstrakte Ausdruck des Pierrot als Mythos gewordene, archetypische Künstlerfigur. Mehr tragischer Zustand als Handlung mit einem Platz weit draußen im Kosmos.

Um den extremen Expressionismus der Kunstwelten dieser Lieder sichtbar zu machen, hat Regisseur und Animator Luis August Krawen eine Folge von geheimnisvollen, auf einer raumgreifenden Leinwand am vorderen Bühnenrand projizierten Animationsvideos produziert. In diesen wandelt eine Kunstfigur durch gespenstische, teilweise bedrückende Nachtszenen, in denen eine in quecksilbrige Farben zerfließende Natur im Kontrast zu Brutalbeton-Architekturen steht. Darin verloren, suchen zunächst junge Menschen genauso wie die Sängerinnen der Lieder von Schönberg, ihren Weg zu finden. Obwohl die Hauptfigur sich in der äußeren Körperform nicht wandelt, gewahrt man auf unheimliche Art und Weise ihre eindeutigen Alterserscheinungen in den Gesichtszügen und in der nachlassenden Energie. Ein beängstigender Ritt durch das Leben mit ungewissem Ausgang. Die Schnittfolge der Sequenzen erhält ihre besondere Beunruhigung dadurch, dass oft unmittelbar vor dem Ende einer Einblendung ein Detail gerade noch oder nicht mehr richtig sichtbar wird, das auch eine Bedrohung darstellen könnte. Sie endet in einer Animation, die Böcklins Toteninsel verfremdet abbildet.

Von den ursprünglich vom Dichter geschriebenen 54 Gedichten hat Schönberg 21 vertont. Die sind wiederum in dreimal sieben Abschnitte gegliedert, die in Hamburg von drei sehr unterschiedlichen Frauen verkörpert werden. Die Sängerinnen stehen jeweils rechts unten aus dem hochgesetzten Orchestergraben gehoben wie in bewegungsloser, oratorischer Aufstellung vor dem Bühnenportal. In ungewöhnlicher Reihung beginnt Anja Silja, gefolgt von Nicole Chevalier. Den ruhigeren, vom Abschied geprägten Teil singt Marie-Dominique Ryckmanns aus dem Opernstudio der Hamburger Oper. Sie strebt am ehesten zum traditionellen Gesangsvortrag, von dem sich ihre erfahreneren Partnerinnen auf der Bühne vor dem Hintergrund ihrer großen und anspruchsvollen Repertoire-Erfahrung souveräner lösen können. Das schmälert den eindrucksvollen Auftritt aller drei Darstellerinnen jedoch in keiner Weise.

Eine aus heutiger Sicht spannende, visuell mitreißende Umsetzung des geheimnisvollen Liederkreises.

La Voix Humaine/Die menschliche Stimme wurde in dieser Spielzeit in Norddeutschland bereits in Lübeck und Bremen gezeigt. In Lübeck kam 1963 die deutsche Erstaufführung heraus. In Hamburg wird das Werk in der französischen Originalfassung gegeben.

Francis Poulencs nach einer Textvorlage von Jean Cocteau 1959 in Paris uraufgeführte Mono-Oper ist ein Solostück für eine Sopranistin, deren Liebhaber sie nach einer mehrjährigen Beziehung verlassen will. Sie befindet sich allein in ihrer Wohnung und führt über die gesamte Länge der in Bremen knapp einstündigen Aufführung ein einsames Telefonat mit ihrem Geliebten.

In steigender Verzweiflung versucht sie zunächst Selbstsicherheit und Beiläufigkeit vorzutäuschen, später auch durch die Schilderung ihres Selbstmordversuches, den Mann zurückzugewinnen. Dabei erlebt man nur die Frau allein in ihrem Zimmer, den Partner sieht und hört man nicht, sein Agieren ist für den Zuschauer aus den Reaktionen der einsamen Frau am Telefon zu imaginieren.

Die musikalischen Linien werden immer wieder abgebrochen, wobei die wiederholte Unterbrechung der Telefonverbindung gezielt zur dramaturgischen Steigerung von Hektik und Sprachlosigkeit eingesetzt werden. Hoffnung und Angst steigern sich zur Verzweiflung.

Die Vorlage bietet für eine Solosängerin eine große Palette von Interpretationsmöglichkeiten. So könnte zum Beispiel ein akrobatisches Spiel mit einem Telefon oder einer langen Telefonschnur eine Verbindung andeuten, die die Protagonistin so verzweifelt sucht. Eine andere Variante ist die ganz in einer Abstraktion gehaltenen Verarbeitung des Erlebnisses. Die Bewältigung der szenischen Umsetzung muss die Darstellerin alleine vollziehen. Niemand ist an ihrer Seite. Sie muss also die Trauerarbeit, das Loslassen und die Suche nach einer neuen Haltung selbst und in Einsamkeit leisten. Das erfordert nicht nur gesanglich, sondern auch von der Darstellungsintensität eine außerordentliche Persönlichkeit.

Sopranistin Kerstin Avemo bringt eine außerordentliche sängerische Ausdrucksskala für die Solopartie mit. Man merkt ihr die Erfahrungen mit Alban Bergs großer Partie der Lulu an. Sie vermag ihre Darstellungskunst gesanglich und darstellerisch auf einem schmalen Steg vor dem im Hintergrund der Bühne postierten Orchester glanzvoll auszuspielen. Warum sie dazu allerdings sich zeitweise auch selbst an einem Lederriemen führen muss, bleibt wohl ein Geheimnis der szenischen Einrichtung von George Delnon.

Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter seinem Chefdirigenten Kent Nagano spielte sowohl in der kleinen Schönberg-Formation im Orchestergraben und später in der vollen Orchesterbesetzung auf der Bühne effektvoll, durchhörbar und – insbesondere bei Poulenc – klangschön in den melodischen Passagen.

Applaus für die Sängerdarstellerinnen, das Staatsorchester und Kent Nagano. Einige Buhrufe muss George Delnon hinnehmen, als er auf der Bühne erscheint.

Achim Dombrowski