Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
DIE NACHT DER SEEIGEL
(Huihui Cheng, Diana Syrse, Mischa Tangian)
Besuch am
2. Mai 2019
(Premiere)
Als zehnte Uraufführung der Ära Delnon seit 2015 und Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper zusammen mit der Akademie Musiktheater heute erlebt die Die Nacht der Seeigel ihre Premiere in der Opera Stabile. In dieser Initiative haben junge Stipendiaten des Musiktheaters über zwei Jahre Gelegenheit, neben Besuchen von deutschen und internationalen Opernproduktionen sowie Gesprächen mit erfahrenen Künstlern ein eigenständiges Abschlussprojekt an einem großen Haus herauszubringen.
Bei der Realisierung dieser eigenen Musiktheaterproduktion sollen im Kollektiv Ideen und Visionen der jungen Künstler umgesetzt, neue Perspektiven auf die Oper präsentiert, sowie der europäische Traditionsbegriff der Kunstform hinterfragt werden. Dabei arbeiten die Beteiligten interaktiv und über Grenzen der bekannten Gattungen wie Komponist, Sänger, Dramaturg oder Bühnenbildner hinaus.
Musik | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Gesang | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Regie | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Bühne | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
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Chat-Faktor | ![]() ![]() ![]() ![]() ![]() |
Kollektiv und Verschmelzung sind denn auch Kernbegriffe des Konzeptes zur Abschlussarbeit der Gruppe von jungen Künstlern des aktuellen Jahrgangs der Akademie des Musiktheaters in Hamburg.
In einem grotesken Wurf wird der Seeigel zum Reflektionsobjekt dreier zunächst unabhängig und einsam agierender Personen, die sich alle in einer Phase der Transition befinden. Die Szenenfolge kreist um die Theorie des Wissenschaftlers, dass Menschen vor und nach der Geburt Seeigel sind. Weiterhin lehren die Seeigel den Menschen, dass sie trotz ihrer Eigenschaft, autonom existieren zu können, zusammen verschmelzen und so ihre Einsamkeit überwinden können.
Auf einer konkreteren Handlungsebene erlebt der Zuschauer die Mitglieder einer Familie aus drei verschiedenen Generationen. Neben dem Wissenschaftler agieren dabei eine Frau mit ungeborenem Kind und ein junger Mann, der seine Geliebte verlassen hat. Die Handlung lässt dabei die traditionellen Formate von Zeit und Raum hinter sich.
In einer zwölfteiligen Szenenfolge inklusive Prolog werden über eine abstrakte Folge von Reflektionen Fragen von Einsamkeit, Grenzüberwindung des Ichs, von menschlichen Instinkten, Gefühlen und Intuition erörtert. Als potenzielle Zielfunktion zeichnet sich ab, dass sich menschliche Widersprüche womöglich im Wege einer anderen Kollektivität und in ungeahnten, erfüllenden Formen der Verschmelzung auflösen könnten, wenn der Mensch sich angstfrei und spielerisch verhalten und von seinen Schwarzweiß-Gegensätzen ablassen kann.
Foto © Jörn Knipping
Im Verlauf der Aufführung entsteht so ein magisch-utopischer Raum der Unwirklichkeit, der den Zuschauer fordert, das Gesehene, Gehörte und Erfühlte zu einem für ihn relevanten, womöglich sehr flüchtigen Erlebnis zusammenzuführen. Für den, der zuhört und den der hohe Abstraktionsgrad der Performance anspricht, tut sich ein unendlicher Raum der Imagination auf. Wenn es ihn berührt und er nicht gar so jung mehr ist, wie mag er über sein bisher geführtes Leben denken und fühlen? Und wenn er noch jung ist, wie kann das Erlebte sein Bewusstsein und seine Zukunft beeinflussen?
Die Musik des Komponisten-Dreiergespanns Huihui Cheng, Diana Syrse und Mischa Tangian bedient sich bei der Umsetzung übergangslos einer Vielzahl von Techniken: Es wird live gesungen, gesprochen, geflüstert, mit Geräuschen gearbeitet, mit dekonstruierten Melodien, elektronischen Klängen und mit anderen, die Instrumente verfremdenden Effekten.
Der Wissenschaftler wird von der dem Hamburger Haus seit vielen Jahren verbundenen und erfahrenen Gabriele Rossmanith mit viel Körpereinsatz überzeugend gesungen und gespielt. Die Partien der Frau und des Mannes von Na’ama Shulman und Hiroshi Amako. Auf einer Empore des Raumes sind Diana Syrse – auch Komponistin des Werkes – und Evarts Svilpe, Dramaturg, positioniert, die eine Reihe auch elektro-akustisch verfremdeter Rhythmus- und Gesangselemente beitragen.
Das Orchester besteht aus sieben Mitgliedern: je eine Violine, Kontrabass, Flöte, Trompete, Posaune, Schlagwerk und Gitarre. Sie werden von Mitgliedern des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg engagiert gespielt. Die musikalische Leitung hat Ulrich Stöcker, ebenfalls Stipendiat der Initiative.
Die Gruppe der Akademisten hat ohne Zweifel den Freiraum genutzt, mit dieser Abschlussproduktion den Raum dessen, was heute Musiktheater bedeuten kann, mutig auszuschreiten, neue Formen der Zusammenarbeit jenseits der alten Gattungsgrenzen zu testen und neue musikalische Klangwelten zu kreieren.
Die Premiere im kleinen Haus der Hamburger Oper ist gut besucht, und das Publikum spendet großen Beifall.
Fragen bleiben: Was kann ein solcher Weitwurf für das Musiktheater heute bedeuten? Diese Seeigel schwimmen weit draußen im hoch abstrakten Meer der Fantasie und bisher nur vor einem kleinen Publikum. Können sie auch von einem größeren, neugierigen Publikum entdeckt und intellektuell wertgeschätzt werden, und wie wäre das zu bewerkstelligen?
Achim Dombrowski