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Da sind sie

NABUCCO
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
10. März 2019
(Premiere)

 

Staatsoper Hamburg

Der russische Theatermacher Kirill Serebrennikov sitzt in Moskau im Hausarrest. Ihm werden Unterschlagung von staatlichen Subventionen für Theaterproduktionen in Russland vorgeworfen. Die Vorwürfe erscheinen fadenscheinig. Die russische und internationale Kunstszene glauben an ein vorsätzliches Manöver der Politik, Putin-kritische Stimmen der Künstlerschaft zu unterdrücken und ein abschreckendes Beispiel zu setzen.  Wie jetzt in Hamburg hatten auch die Opernhäuser Stuttgart und Zürich Verträge für Operninszenierungen mit dem Künstler geschlossen, noch bevor er in seinem Heimatland festgesetzt wurde. Wie in Stuttgart und Zürich wurde eine Art Fernarbeit mit dem Ensemble umgesetzt, wobei Serebrennikov über extensive eigene Aufzeichnungen und den Austausch von Videos und andere Materialien über seinen Anwalt bei der Probenarbeit einbezogen war. Darüber hinaus arbeitete eine dem Regisseur nahestehende Unterstützungsgruppe in Hamburg vor Ort mit den Sängern, dem Chor, einer umfangreichen Statisterie und nicht zuletzt einem Projektchor von über 30 Mitwirkenden, die als Migranten in Hamburg leben. Im Einzelnen: Evgeny Kulgin für die Co-Regie, Olga Pavluk für die Mitarbeit Bühne und Tatyana Dolmatovskaya für die Mitarbeit bei den Kostümen.

Serebrennikov, der auch die Bühne und Kostüme verantwortet, verortet die Handlung der Verdi-Oper Nabucco in den Räumen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Hier finden die persönlichen und politischen Verstrickungen der handelnden Personen statt, deren Hintergrund und Werdegang durch individuelle Steckbriefe im Programmheft vorgestellt werden. Nabucco ist assyrischer Autokrat. Seine beiden Töchter Abigail und Fenena aus verschiedenen Ehen sind ebenfalls in der Politik tätig, allerdings mit unterschiedlichen, abweichenden politischen Zielsetzungen. Zaccaria, im Original der Hohepriester der Hebräer, ist Chefunterhändler des Gelobten Landes und Delegationsleiter diverser ethisch hochstehender Initiativen der UN. Chor und Statisten stellen Sicherheitskräfte, Saaldiener, Reinigungspersonal und Journalisten dar. Fernseheinspielungen zeigen in Live-Beiträgen Flüchtlingsströme sowie widerstreitende Proteste eines tief gespaltenen Europas im Für und Wider der Aufnahme von Migranten. Über den gesamten Abend werden Bilder des Fotografen Sergey Ponomarev von erschöpften Flüchtlingen, darunter vielen Kindern, auf einer Leinwand eingeblendet. Auch der Gefangenenchor wird mit seinen Bildern unter der Überschrift Da sind sie gesungen. Zwischen den Akten oder Szenen singen Abed Harsony und Hana Alkourbah Lieder aus ihrer syrischen Heimat von Vertreibung und Flucht. In diesen für westliche Ohren unendlich traurigen Gesängen begleitet sich Harsony jeweils selbst auf seiner Oud.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Das Personal der UN ist gekennzeichnet durch Mitglieder, denen ihre Zugangsausweise wie unerlässliche, einzig identitäts-stiftende Embleme ihrer Persönlichkeit vor dem Bauch baumeln. Ihrem blasierten Benehmen, ihrer politisch schein-korrekten Begegnung untereinander sowie den sich komplett verselbständigten macht- und karriere-politischen Abläufen und Begegnungen könnte nichts gleichgültiger sein als das pausenlos von den Monitoren flimmernde Flüchtlingselend der Realität. Man positioniert sich laufend vor Kameras, um politische Aufrufe und Losungen in eine anonyme Welt zu sprechen. Gebrochen wird die Szenerie beim Gefangenenchor Va, pensiero, der vom dunkel gekleideten Chor der Hamburgischen Staatsoper mit außerordentlicher Zartheit und Verletzlichkeit intoniert wird. Wie auf ihren Irrwegen wandern dabei die in der Produktion mitwirkenden Migranten durch die Szenerie. Später wird der Chor in eigener Einstudierung des Projektchors wiederholt. Nach den zuvor vorgetragenen, eigenen heimatlichen Liedern ein Sinnbild der Suche nach Integration in eine andere Kultur, die die gleichen menschlichen Sehnsüchte zum Ausdruck bringt.

Es ist erstaunlich, wie bruchlos und zwingend diese Konzeption aufgeht. Eine derart sinnhafte zeitliche und inhaltliche Übertragung auf zeitgenössische Belange und politisch drängende Themen ist einzigartig. Ein Geheimnis liegt auch in der konsequenten Realisierung klassischer Theaterregeln in Personenführung und anderen Gestaltungsmerkmalen, die zudem in höchster Disziplin umgesetzt werden. Kaum fassbar, dass ein solches Ergebnis im Wege einer long-distance-Arbeit gelingt!

Auch auf der musikalischen Seite kann die Inszenierung überzeugen. Dimitri Platanias gestaltet einen Nabucco mit umfangreicher Dynamik und makelloser Kantilene. Oksana Dyka gibt ein karrieregeiles Prachtweib mit charaktervoller, in der Mittelage durchaus auch spröder Tongebung, wie es dem Charakter der Figur entsprechen mag. Der Zaccaria von Alexander Vinogradov überzeugt durch ein markantes, kerniges, sehr bewegliches Bassorgan: Er versteht die Gewalt seiner Stimme mit einer im politischen Handwerk gestählten, perfiden Scheinheiligkeit in der Außendarstellung zu paaren. Geraldine Chauvet als Fenena und Dovlet Nurgeldiyev als Ismaele gestalten stimmlich auf höchstem Niveau und darstellerisch überzeugend das in Liebe zugewandte Paar.

Der Chor der Hamburgischen Staatsoper unter der bewährten Leitung von Eberhard Friedrich glänzt nicht nur in dem so sensibel und feinsinnig, ganz zurückgenommen vorgetragenen Gefangenenchor, sondern kann auch in den dramatischeren Szenen uneingeschränkt überzeugen. Statisten und Projektchor aus Migranten fügen sich bewegend in die Gesamtszenerie.

Paolo Carignani fordert dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg zunächst rhythmisch und dynamisch sehr viel ab, so dass man in den ersten Bildern manchmal denkt, dass die Premiere sich oft zunächst einmal noch wie eine schon ziemlich gelungene Generalprobe anhöre. Es wackelt noch gewaltig im Orchester und auch bei den Choreinsätzen. Im weiteren Verlauf können die Kollektive jedoch den hohen Ansprüchen genügen. Das Ergebnis ist ein flexibler, niemals auf äußere Effekte getrimmter Verdi-Stil, der auch einer gebotenen Zurückhaltung angesichts der behandelten aktuellen, tragischen Thematik gerecht wird. Ein sehr eigenständiger Ansatz, hat man doch gerade bei Nabucco schon viele Interpretationen mit falsch verstandenem Knalleffekt erlebt.

Am Ende einhellige Zustimmung für alle Beteiligten. Das russische Unterstützerteam Serebrennikovs zeigt T-Shirts und ein Spruchband mit der Aufschrift Free Kyrill.

Die Hamburgische Staatsoper hat mit dieser Neuinszenierung schon vor der Premiere eine ungewöhnlich weitreichende und überregionale Aufmerksamkeit erhalten. Es gab einen Ansturm auf die Karten, die Aufführungsserie in dieser Spielzeit ist ausverkauft. Intendant George Delnon und sein Team erfahren damit schließlich die Aufmerksamkeit, die ihre mittlerweile mehrjährige, anspruchsvolle Arbeit verdient. Es bleibt zu hoffen, dass das aktuelle Interesse der Öffentlichkeit sich nachhaltig auch auf andere Initiativen des Hauses ausweitet und zu einem noch stärkeren Besucherzustrom führt.

Achim Dombrowski