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MEIN STAAT ALS FREUND UND GELIEBTE
(Johannes Kreidler)
Gesehen am
16. April 2020
(Livestream)
An Fantasie und Experimentierfreude mangelt es dem 1980 geborenen Komponisten und Konzeptkünstler Johannes Kreidler nicht. Ebenso wenig den Bühnen Halle, die Wert auf eine jährliche Uraufführung legen. Vor zwei Jahren gab man dort Kreidler, der schon mal Tonhöhen aus Aktienkursen ableitete und „Fremdarbeiter aus Billiglohnländern“ für sich komponieren ließ, nach einigen kleineren Projekten die Gelegenheit, mit einer 90-minütigen Oper seine „Liebe“ zum Staat ungefiltert auszuleben. Mein Staat als Freund und Geliebte heißt die Oper „für Chor, Video, einen Schauspieler, einen dramatischen Tenor, Ballett, Orchester und Elektronik“, die jetzt als Livestream in die Wohnzimmer flimmert.
Eine gewaltige Besetzung, die einen immensen technischen Aufwand erfordert. Alles für eine ironische Abrechnung mit verschiedenen Fassetten des Staatswesens, nicht ohne einen gewissen Unterhaltungswert, in ihrer medialen Verspieltheit allerdings eher eine kunterbunte Revue als eine Oper. Was nicht störte, wenn die oft hochgestochenen, bisweilen regelrecht verquasten Texte nicht einen Tiefgang vorgaukelten, den das Stück nicht hergibt. Viel heiße Luft dampft aus der bizarren Liebeserklärung, die jetzt in guter Bild- und Tonqualität als Livestream abgerufen werden kann und aus der zeitlichen und räumlichen Distanz der Wohnstube in Corona-Zeiten das bescheidene Reflexionsniveau umso deutlicher erkennen lässt.
Bildschirmfoto
Zu erleben ist eine opulente Verwertungsshow von eingeblendeten Szenen-Schnipseln aus Hollywood-Streifen aller Genres, musikalischen Zitaten aus romantischen Gefilden von Chopin bis Wagner, offiziellen Regierungserklärungen und philosophischen Sentenzen. Musikalisch steuert Kreidler kaum Selbstgestricktes bei. Die Opern-Highlights aus der Tosca und gleich vier Wagner-Opern einschließlich des Liebesduetts aus dem Tristan und der Final-Apotheose des Parsifal dürften ohnehin nicht an Wirkung zu übertreffen sein. Auch nicht durch einige kurze Breakdance-Unterbrechungen. Verklärende Klänge, in denen der Staat die Rolle des oder der Geliebten und im Falle des Parsifal des Erlösers einnimmt. Ergänzt durch Ausschnitte aus mehr oder weniger bekannten Hollywood-Schinken aller Genres, von der Liebesschmonzette bis zum tatkräftigen Western- und Horrorstreifen. Eigenschaften reflektierend, in denen sich der Staat seinem geliebten Bürger zeigen kann.
Eine nachvollziehbare Handlung ist angesichts der locker gefügten Szenenfolge nicht zu erkennen. Als eine Art Moderator ist ein „Performer“ allgegenwärtig, der Texte rezitiert, aber auch akrobatisch über die Bühne hechtet und sich auch noch als exzellenter Pianist empfiehlt. Sonderapplaus gibt es für Liszts Campanella-Etüde. Der Pianist-Performer stefanpaul meistert die kräftezehrenden Aufgaben souverän. Dass er am Ende kaum Verständliches in die Schlussmusik zum Parsifal reden muss, dafür ist die Vorlage verantwortlich. Ebenso für die ebenso überflüssigen Ausführungen zur Bedeutung des Beifalls im Anschluss ganz am Ende. Der erhobene Zeigefinger der Belehrungen kommt beim Publikum nicht sonderlich gut an. Bei der Uraufführung soll es zu heftigen Protesten gekommen sein.
Das ganze Stück durchzieht ohnehin ein belehrender Unterton, der auch gelungenen Parodien die Leichtigkeit entzieht. Eine der viel zu wenigen wirklich witzigen Einfälle bietet der Tenor Christian Vogt, wenn er der Melodie der Mackie-Messer-Ballade den Text der deutschen Nationalhymne unterlegt und anschließend der Melodie der Hymne den Text der Brecht-Ballade. Ein pfiffiger Einfall. Allerdings ein seltener. Sonst wabert es schicksalsschwanger voller Wagner-Klänge, wobei der bewegungsfreudige und stilistisch flexible Chor der Oper Halle in Wagners Liebesduett die Rolle der Isolde übernimmt. Auch die Tänzer des Hauses und die Staatskapelle Halle unter Leitung von Christopher Sprenger haben viel zu tun. Die weiß ausgeschlagene, weitgehend leere, im Wesentlichen lediglich mit Projektionswänden, einem Podest und einem Klavier bestückte Bühne von Christoph Ernst lässt der Inszenierung von Johannes Kreidler viel Spielraum.
Insgesamt eine flotte, teilweise oberlehrerhaft wirkende Revue, die einiges an Chancen verspielt.
Pedro Obiera