O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jörg Landsberg

Aktuelle Aufführungen

Im Eisschrank der Gefühle

ÜBER_UNS
(Urs Dietrich)

Besuch am
16. April 2022
(Premiere)

 

Theater Hagen

Über_Uns erfahren wir eine Menge im neuen gleichnamigen Tanzstück von Urs Dietrich, das jetzt im mäßig gefüllten Hagener Theater mit großem Erfolg aus der Taufe gehoben wurde. Leicht macht es der renommierte Choreograf bei seinem Hagener Debüt weder den Tänzern noch dem Publikum. Mit minimalistischen, aber hochkonzentriert dosierten und kreativ gestalteten Mitteln füllt er das 65-minütige Stück, das in elf Sequenzen die meist vergebliche Suche des Menschen nach Zuneigung und Nähe reflektiert.

Zu sehen ist eine Art Winterreise durch abstrakte Beziehungsräume mit eingefrorenen Bewegungen in Zeitlupentempo, die immer wieder zum völligen Stillstand erstarren. Den dreizehn Tänzern gibt er viel Raum für eindrucksvolle solistische Aufgaben, die mit ihrer Ausdrucksintensität einen scharfen Kontrast zur eisigen Grundstimmung bieten.

Dafür bedient sich Dietrich mit seiner reichen Erfahrung eines großen Reservoirs an Bewegungsformen, die die Tänzer auch mit großem Einsatz und Können umsetzen. Allerdings lassen sich angesichts der für ein abstraktes Ballettstück stattlichen Spieldauer Wiederholungen nicht vermeiden. Immerhin kommt so fast jedes Corps-Mitglied zu dankbaren Auftritten.

Dietrichs lange Zusammenarbeit mit Susanne Linke und dem Bremer Tanztheater lässt sich dabei nicht verleugnen. Auch nicht im strengen Dekor. Auf Farbe verzichtet Dietrich völlig. Tiefes Schwarz beherrscht sowohl die Kostüme als auch die leere Bühne und lässt das Stück wie ein getanztes Requiem erscheinen. Lediglich vereinzelte weiße Blusen deuten einen Hoffnungsschimmer an. Und ein plötzlich am oberen Bühnenrand erscheinender weißer Baldachin erweist sich nicht als Vorbote eines emotionalen Frühlings, sondern bläht sich zu einer Art Tsunami auf, der die Bühne bis in den Orchestergraben überzieht und die Tänzer zu verschlingen droht. Vom Effekt her sicher eine der eindrucksvollsten Szenen des Stücks zu maschinenhaften Klängen des Sound-Designers Luca Canciello.

Bedrohlich irreale Klänge, die einen harten Schnitt zu den Streichquartetten von Franz Schubert und Henryk Góreckì bilden, die das Stück musikalisch tragen, wenn es Dietrich nicht gerade bei völliger Stille belässt. Ausgewählt hat der Choreograf zwei Sätze aus frühen Quartetten Schuberts, die als umrahmende Eckpfeiler sowohl innere Unruhe als auch tröstliche Ausblicke zum Ausdruck bringen. Die minimalistischen Etüden des polnischen Neoromantikers Góreckì wirken dagegen recht unpersönlich und enthalten viel klingendes Füllmaterial.

Nach Gundula Peutherts ebenfalls düster eingehülltem Fährmann bewährt sich das Hagener Ballett-Ensemble erneut mit einer anspruchsvollen, in diesem Fall besonders strengen und asketischen Aufgabe, die es solistisch wie auch in den Ensemble-Nummern auf hohem Niveau löst. Einen kulinarischen Abend darf das Publikum zwar nicht erwarten, dafür aber einen Tagtraum zwischen Requiem und eingefrorener Winterlandschaft in düsteren Szenarien. Auf jeden Fall eine spannende, wenn auch leicht zu lang geratene Begegnung mit Tanzkunst auf der Höhe der Zeit.

Entsprechend begeistert reagiert das Hagener Premierenpublikum auf dieses Ereignis.

Pedro Obiera