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TRI SESTRY (DREI SCHWESTERN)
(Peter Eötvös)
Besuch am
1. April 2023
(Premiere am 25. März 2023)
Es ist ungewöhnlich, wenn es eine zeitgenössische Oper im Laufe von 25 Jahren auf über 30 Inszenierungen bringen kann, von Paris und Budapest bis Wien und Zürich. Noch ungewöhnlicher, dass Peter Eötvös dieser Erfolg mit einem Werk nach der Vorlage von Anton Tschechow gelungen ist. Dass Vertonungen von Tschechow-Stoffen, ähnlich wie im Falle von Kleist, gemessen an ihrer Bedeutung als Dramatiker relativ selten und wenn, dann nur wenig nachhaltig auftauchen, ist kein Zufall. Die spezifische Atmosphäre einer von innerer Leere erfüllten, versinkenden Welt mit Menschen, deren Hoffnungen zerplatzen und von der Gegenwart und Zukunft überfordert oder zerrieben werden, eingekleidet in eine leise, von zarter Melancholie überzogenen Sprache, läuft durch opernhafte Bearbeitungen Gefahr, in ihrer zerbrechlichen Schwerelosigkeit und empfindsamen Tristesse dramatisch aufgebläht oder sentimentalisiert zu werden.
Dass es Peter Eötvös mit seiner Vertonung der Tri Sestry, der drei Schwestern, gelungen ist, auch den atmosphärischen Gehalt der Vorlage zu bewahren, kommt einer Quadratur des Kreises gleich. Und dass das Werk so repertoiretauglich ist, dass es auch von kleineren Bühnen gestemmt werden kann, bewiesen bisher nicht nur Aufführungen in Freiburg und Koblenz, sondern bestätigt sich jetzt auch in einer hervorragenden Produktion des Theaters Hagen. Dass man hier, wie bereits bei der deutschen Erstaufführung 1999 an der Deutschen Oper am Rhein, die drei ursprünglich für Countertenöre vorgesehenen Partien der drei Schwestern mit Frauenstimmen besetzt, muss und darf man in Kauf nehmen. Was das Werk dadurch an kühler Distanz verliert, wird durch eine Prise an menschlicher Wärme aufgewogen, ohne dass sich sentimentale Gefühlsblähungen einstellen.
Auch wenn Eötvös und sein kongenialer Librettist, der unvergessene Claus H. Henneberg, nicht zuletzt durch die Beibehaltung der russischen Originalsprache der Vorlage nahebleiben, kann nicht von einer Literaturoper in gängigem Sinn gesprochen werden. Henneberg strukturiert das etwa 100-minütige Werk in drei Blöcke, in deren Mittelpunkt jeweils das Schicksal einer Figur gerückt wird. Das von Irina, deren Bruder Andrej und ihrer Schwester Mascha. Olga, die im Bunde, ist zwar stets gegenwärtig, kann als selbstbewusste Lehrerin mit den Lebensumständen jedoch reflektierter und stärker umgehen als ihre verunsicherten Schwestern.
Ganz kurz die Handlung: Die vier Geschwister sehen in ihrer aussterbenden Provinzstadt keine Zukunft und sehnen sich nach einem Leben in Moskau. Einzig eine stationierte Militär-Division sorgt für ein wenig Abwechslung. Während vor allem Irina, Andrej und Mascha ihren Träumen nachhängen, verlässt die Kohorte nach und nach das Dorf, wodurch das Leben zum völligen Stillstand stockt. Und die Träume zerplatzen wie Seifenblasen. Die Freude Irinas auf die befreiende Hochzeit mit einem Offizier verpufft, als der ausgemachte Bräutigam einem Duell zum Opfer fällt. Der unglücklich verheiratete Andrej verliert die Hoffnung, als Professor in Moskau Karriere machen zu können. Und Mascha gelingt zwar ein zartes Verhältnis zum Kommandanten, der aber mit seiner Garnison das Dorf verlässt. Während ein Brand die Kleinstadt verwüstet, bleiben die Geschwister resigniert zurück.
Foto © Jörg Landsberg
Peter Eötvös hat eine äußerst sensible und filigrane Partitur geschaffen, die die Stimmung des Stücks und der Figuren treffsicher einfängt und auf aufgesetzte dramatische Effekte verzichtet. Das vielfältig schillernde Orchester ist zweigeteilt. In Hagen sitzen im Orchestergraben 18 Mitglieder des superben Ensembles Musikfabrik, geleitet vom Co-Dirigenten Taepyeong Kwak, auf der Bühne das nicht minder überzeugende Philharmonische Orchester Hagen unter der Leitung von Generalmusikdirektor Joseph Trafton. Trafton sorgt für einen zarten Klangteppich und bringt die Sänger nie in Bedrängnis. Eötvös führt die Gesangsstimmen überwiegend lyrisch und sängerfreundlich. Einzig Andrejs leicht hysterische Ehefrau Natascha schlägt schärfere Töne an.
Es ist schade, dass bereits die zweite Aufführung, in Anwesenheit des Komponisten, eine viel zu kleine Besucherschar anlockte. Nicht zuletzt, um zu sehen, auf welch vorzügliches Ensemble das Theater Hagen stolz sein kann. Jede noch so große oder kleine Rolle erweist sich als adäquat besetzt. Dorothea Brandt als Irina, Maria Markina als Mascha, Lucie Cerlová als Olga und Kenneth Mattice als Andrej ebenso wie die Interpreten der kleineren Partien.
Und sie bewältigen ihre schwierigen Partien nicht nur gesanglich vorzüglich, sondern auch darstellerisch. Wozu die feinfühlige Inszenierung von Friederike Blum nicht unwesentlich beiträgt. Auf irgendeine geografische oder zeitliche Einordnung verzichtet sie. Allenfalls eine große runde Häkeldecke, die als Teppich und Bettlaken dient und bisweilen assoziativ an ein Grabtuch erinnert, sowie ein paar Kostümteile weisen entfernt auf den russischen Hintergrund der Handlung hin. Im Wesentlichen konzentriert sich die Regisseurin auf die Stimmungslagen der Figuren: abstrakt, aber sehr intensiv und detailgenau. Das auf der Bühne postierte Orchester schränkt zwar die Spielfläche ein, fokussiert damit aber zugleich den Blick auf die Figuren. Bühnenbild und Kostüme verantwortet Tassilo Tesche. Eine riesige Spiegelwand im Hintergrund reflektiert das Orchester und die Figuren, wodurch die Konturen der realen Handlung in einer zweiten Ebene zu verwischen scheinen. Eine sehr praktikable und überzeugende Brechung der Optik.
Insgesamt eine ungewöhnlich eindrucksvolle Produktion eines ebenso ungewöhnlich packenden Meisterwerks des zeitgenössischen Musiktheaters. Und das würdigt das Publikum mit entsprechend großer Zustimmung.
Pedro Obiera