O-Ton

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Im Eisschrank der Armut

HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)

Besuch am
8. Dezember 2021
(Premiere am 27. November 2021)

 

Theater Hagen

Jedes Theater verdient Respekt, wenn es ein so oft unterschätztes und vielfach nachlässig behandeltes Werk wie Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel ernst nimmt und trotzdem fantasievoll und mit leichter Hand angeht. Dass die Oper musikalisch nicht auf die leichte Schulter genommen werden kann, hat ja bereits Richard Strauss, der Dirigent der Weimarer Uraufführung, mit großer Hochachtung bezeugt, der es als „verteufelt schwer“ bezeichnete. Ein dickes Lob verdient bereits unter diesem Aspekt der Dirigent der Hagener Neuproduktion, Rodrigo Tomillo, der sowohl die Liedhaftigkeit als auch die Wagner-nahe Opulenz der glänzend instrumentierten Partitur stilsicher trifft und mit frischem Schwung jede naive Reduzierung und pathetische Überhöhung vermeidet.

Aber auch szenisch kann die Hagener Produktion punkten. Keine leichte Aufgabe, steht doch jeder Regisseur vor der Aufgabe, ein thematisch äußerst vielschichtiges Stück einigermaßen werkgerecht und ausgewogen auf die Bühne bringen zu müssen. Denn die bekannte Märchenhandlung bildet nur den Rahmen für ein ganzes Kaleidoskop unterschiedlicher Aspekte. Es lässt sich als Singspiel und als Musikdrama verstehen, als soziales und psychologisches Drama, in dem sich Realität und Traum vermischen, und was in heutigen Zeiten meist übersehen wird: Adelheid Wette, die Librettistin und Schwester Humperdincks verlieh dem Stoff einen starken religiösen Akzent. Das Motto „Wenn die Not am Höchsten steigt, Gott der Herr die Hand dir reicht“, eng verknüpft mit dem musikalischen Leitmotiv des Abendsegens, durchzieht das ganze Werk, das somit auch als religiöses Erlösungsdrama gesehen werden kann. Mit der ebenso einfachen wie klaren Botschaft: Die Hoffnung auf die Kraft Gottes erlöst den Menschen vom Bösen. Wenn das nicht schon reichen dürfte, soll das Ganze soll auch noch familiengerecht für Alt und Jung verständlich und unterhaltsam aufbereitet werden.

Regisseur Holger Potocki stellt zwar auch in Hagen den vom Zeitgeist überholten religiösen Aspekt nicht ins Zentrum seiner Inszenierung, deutet ihn aber immerhin an, wenn das Motto ein Puzzle ziert, mit dem sich die kleine Gretel in ihrer modernen Wohnstube neben einem leeren Kühlschrank die Zeit vertreibt und von dem sie sich in eine bessere Welt entführen lässt. Für die Verknüpfung der realen Situation eines in prekären Verhältnissen, von hoffnungslos überforderten Eltern aufwachsenden Kindes mit einer erträumten Fantasiewelt nutzt Potocki die Videokünste von Hans-Joachim Köster so geschickt und dramaturgisch stringent, wie man es bisher selbst bei technisch noch aufwändigeren Produktionen selten erlebt hat.

Die zurückgelassenen Kinder suchen vergeblich im Kühlschrank nach etwas Essbarem, als plötzlich der Kühlschrank zur Bühne mutiert und die Geschwister zwischen einer mageren, überdimensional großen Lauchstange und einer leeren Milchtüte herumirren, bis sich im Traum das Reich der Hexe eröffnet.

Die Kälte des Kühlschranks bildet die Leitlinie seiner Inszenierung. Die Kinder hungern nicht nur, sie frieren auch in einer von Armut, Hunger und sozialer Kälte bestimmten Welt. In der Traumpantomime irren sie durch eine Eiswüste und auch das Hexenhäuschen gleicht einer Kühlkammer. Der Gefahr, das Werk zu einem trostlosen Sozialreport aus Duisburg-Marxloh auszuzehren, entgeht Potocki durch eine lebendige Personenführung und viele fantasievolle Einfälle. So zieren das Hexenhaus keine Knusperkuchen, sondern leckere Eisbomben.

Ein wenig verzettelt sich Potocki in der psychologischen Deutung der Hexe, die als Mutation der Mutter erscheint. Die Idee ist zwar nicht neu und auch nicht abwegig, wird aber nicht schlüssig und sonderlich verständlich umgesetzt. Zumal man die Hexe mit einem Tenor besetzt, ausgeführt Richard van Gemert alternierend mit Anton Kuzenok.

Auf das vorzügliche Dirigat des stellvertretenden Generalmusikdirektors Rodrigo Tomillo wurde schon hingewiesen. Auch vokal kann sich die Produktion hören lassen. Besonders starke Akzente setzen Angela Davis als Mutter sowie Hanna Larissa Naujoks als Hänsel und Penny Sofroniadou als Gretel.

Eine rundum gelungene Neuproduktion des beliebten Stücks für Jung und Alt. Entsprechend begeistert fällt der Beifall des etwas spärlichen Publikums aus.

Pedro Obiera