O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Raphael Faux

Aktuelle Aufführungen

Demut in harten Zeiten

GSTAAD MENUHIN FESTIVAL
(Diverse Komponisten)

Besuch vom
15. bis 17. Juli 2023
(Einmalige Aufführungen)

 

Gstaad und Umgebung

Pandemie, Krieg, Flüchtlings- und Klimakatastrophen: Die idyllische Landschaft des Berner Oberlands, die dem Gstaad Menuhin Festival eine malerische Kulisse liefert, wirkt wie ein entrückter Kontrapunkt zu einer Welt, die aus den Fugen zu geraten droht. Der Schein trügt. Christoph Müller, seit 2002 künstlerischer Leiter des renommierten Festivals, denkt nicht im Entferntesten daran, die Realität ausklammern zu wollen. Drei Jahre richtet sich seine Programmplanung nach dem Motto „Wandel“ aus. Was den Umgang mit den Herausforderungen der Zeit betrifft, zu denen der Klimawandel ebenso gehört wie die technischen Risiken und Chancen einer zunehmend digitalisierten Welt.

Das sind Probleme und Aufgaben, die dem Menschen nicht nur eine Menge an Tatkraft, sondern auch an Demut abverlangen. Und „Demut“ beherrscht den Großteil der 60 Konzerte des siebenwöchigen Festivals. Dazu passen die kirchlichen Einrichtungen der Region noch besser als das große Festival-Zelt im mondänen Zentrum Gstaads. Insbesondere die schlichte Kirche im kleinen beschaulichen Nachbarort Saanen, dem Herzstück des Festivals, in dem Yehudi Menuhin zusammen mit Benjamin Britten, Peter Pears und Maurice Gendron vor fast 70 Jahren das Festival, damals noch in ganz bescheidenem Rahmen, zum Leben erweckte. Die bereits 1228 urkundlich bezeugte Dorfkirche, eine spätgotische, 1604 reformierte Kapelle mit wunderschönen Holzmalereien und einem holzverkleideten Innenraum bietet eine fantastische Akustik, auch für große Chorwerke. Somit waren zum Auftakt des bis zum 2. September andauernden Fests beste Voraussetzungen gegeben, um dem Motto „Demut“ mit einer Aufführung des neben Beethovens Missa Solemnis bedeutendsten Chorwerks, nämlich Johann Sebastian Bachs Hohe Messe in h-Moll, gerecht werden zu können. „Bachs h-Moll-Messe ist die Grundlage der abendländischen Musik. Sein Aushängeschild, ein Pasticcio aus verschiedenen Messen. Ein sakrales Werk mit demütigen Inhalten. Es ist eine Lobhuldigung höherer Macht, der Demut“, sagt Müller.

Patricia Kopatchinskaja – Foto © Julia Wesely

Für diesen Kraftakt verpflichtete man so exzellente Interpreten wie die in Stuttgart ansässige Gaechinger Cantorey, die aus der legendären, von Helmuth Rilling gegründeten Gächinger Kantorei hervorgegangen ist und nach Rillings Tod von Hans-Christoph Rademann neu aufgestellt und umbenannt wurde. Verbunden mit der Gründung eines Barockorchesters und der Intention, im Zuge historischer Aufführungspraktiken den „klanglichen Idealen des Barocks“ näher kommen zu können. Was die Qualität des Chores und des Orchesters angeht, ist die Gaechinger Cantorey auch bei einem derart extrem komplexen und anspruchsvollen Werk wie der großen Bach-Messe über jeden Zweifel erhaben. Und auch bei der Auswahl der Solisten beweist Rademann ein glückliches Händchen. Was seine Interpretation betrifft, verwechselt er Demut nicht mit Kleinmut. Denn er lässt es nicht an vitaler Energie mangeln, greift zu raffinierten Kniffen, um mit Klangeffekten zu spielen. Etwa gleich zu Beginn im Kyrie, wenn er den Chorpart solistisch starten lässt und mit dem schrittweisen Einsatz der Sänger zum eindrucksvollen Gesamtklang verdichtet. Auch mit der expressiven Gestaltung vieler Solo-Passagen oder den dramatisch zugespitzten fugierten Teilen entfaltet Rademann im Werk geradezu opernhafte Wirkungen. Bisweilen freilich auf Kosten des spirituellen Gehalts der Komposition.

Dieser eigenwillige Umgang mit der Messe setzt äußerst flexible, top-professionelle Mitstreiter voraus. Es ist schon beeindruckend, wie mühelos Chor und Orchester ihre mitunter halsbrecherisch virtuosen Aufgaben bewältigen und der Klang selbst in den dichtesten Teilen transparent und kontrolliert wirkt.

Die holzgetäfelte Verkleidung der Kirche kommt diesem Ziel glücklich entgegen. Und auch die ebenfalls schon mittelalterlich beurkundete Kirche im nahegelegenen Zweisimmen verfügt über ähnlich gute akustische Voraussetzungen. Hier startete der Pianist Francesco Piemontesi seine Auftritts-Parade als diesjähriger „Artist in Residence“. Vier Mal wird er bis zum September in Erscheinung treten. So an zwei Kammermusikabenden mit der Cellistin Sol Gabetta, dem Geiger Stephen Waarts und dem Cellisten Daniel Müller-Schott sowie einem Orchesterkonzert mit dem Freiburger Barockorchester.

Zunächst steht jedoch ein anspruchsvoller Solo-Abend mit Werken von Bach, Debussy und Schubert auf dem Programm. Dabei zeigt sich Piemontesi ebenso wenig zurückhaltend wie zuvor Rademann mit der Bach-Messe. Auch nicht in den drei Choral-Vorspielen Johann Sebastian Bachs, die in den Arrangements von Ferruccio Busoni und vor allem Wilhelm Kempff eher orchestrale Üppigkeit verströmen als introvertierte Dezenz.

Die klingt schon eher in den ersten beiden Sätzen der letzten Sonate von Franz Schubert an, der großen Sonate in B-Dur D 960. Die schroffen Ab- und Einbrüche in der Durchführung des Kopfsatzes spielt der Pianist schonungslos aus, womit er scharfe Kontraste zum eher lyrisch-weich angelegten Material der beiden Themen setzt. Den stockenden Duktus des langsamen Satzes, ein Andante, das Piemontesi gemessen wie ein Adagio anstimmt, hält er konsequent über die gesamte Länge des ausgedehnten Satzes durch. Während er den entspannt tänzerischen Tonfall des Scherzos angemessen trifft, lässt er im Finale allzu vordergründig die Pranke des effektbewussten Virtuosen spielen.

Francesco Piemontesi – Foto © Gstaad Menuhin Festival

Diesen Kraftakten geht mit den zwölf Préludes des zweiten Bandes von Claude Debussy bereits eine enorme Konzentrationsleistung voran. Die denkbar unterschiedlich geprägten, pianistisch sehr anspruchsvollen Stücke erfordern eine so individuell profilierte Gestaltung, dass zyklische Aufführungen gewisse Risiken mit sich bringen. Ungeachtet der Qualitäten des Pianisten und der Aufnahmebereitschaft des Publikums lässt die maßgeschneiderte Formung der einzelnen Stücke nach, werden im Verlauf des 40-minütigen Vortrags etliche Details überspielt, vieles wird nivelliert. Eine Beschränkung auf vier oder sechs Stücke wäre sinnvoller.

Neben Francesco Piemontesi nimmt die kreative und experimentierfreudige Geigerin Patricia Kopatchinskaja einen wichtigen Platz ein. Vor allem mit ihren Beiträgen zum Verhältnis von Mensch und Natur. „Die in Bern lebende Geigerin Patricia Kopatchinskaja begleitet uns auf dem Weg, musikalische Antworten auf den Zustand der Welt zu geben. Ihr eigener Konzertzyklus Music for the planet wird jährlich drei Programme präsentieren“, kündigt Müller an. In diesem Jahr wird das Beethovens Pastorale-Symphonie sein, die sie mit Fotografien, Videos und Texten in ein komplett neues Licht stellt. Und zwar gemeinsam mit der Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die auch eine Woche die Gstaad Conducting Academy leiten wird. „Ein Abgesang, der den Niedergang der Natur aufzeigt“, weiß Müller. Außerdem wird es ein Projekt rund um Schuberts Forellenquintett geben, in das Kopatchinskaja Kunstwerke von Inuit-Künstlern einbindet, denen wortwörtlich das Eis unter den Füßen wegschmilzt. Dann noch Haydns Die sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze, begleitet von Worten und Projektionen eines Videokünstlers, mit denen Kopatchinskaja auf den Klimawandel aufmerksam machen will. „Mir ist klar, dass sie so nicht die Welt retten wird, aber doch sensibilisieren“, äußert sich Müller zuversichtlich.

Mit seinen 60 Veranstaltungen bewegt sich das Festival auf dem Niveau der Zeit vor der Corona-Zäsur. Auch das Publikum ist zurückgekehrt. Finanziell steht das Festival auf stabilen Füßen. Selbst die Schweizer Bankenkrise im letzten Jahr wirkte sich nicht substanziell aus. Es zahlt sich aus, dass private Mäzene den Löwenanteil der Finanzierung sichern, von denen es in der Schweiz eine Menge gibt. Die öffentliche Hand steuert nur 10 bis 15 Prozent bei, auf Unterstützung aus der Wirtschaft wird völlig verzichtet. Und so kann Christoph Müller mit seinem Triptychon „Wandel“ beruhigt in die Zukunft sehen.

Pedro Obiera