O-Ton

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Vergesst uns nie!

Die Passagierin
(Mieczysław Weinberg)

Besuch am
11. November 2020
(Premiere am 18. September 2020)

 

Opernhaus Graz

Ein Stoff, der unter die Haut geht und eine Musik, die aufwühlt und durchdringt. Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin entstand 1968. Erst 2006 kam es zur konzertanten Uraufführung in Moskau. Solange hielt das kommunistische Regime das Werk aus Angst und politischer Pression unter Verschluss. 2010 endlich erfolgte die szenische Uraufführung in Bregenz mit großem Erfolg, der der Oper seither zurecht zusteht.

„Vergesst uns nicht“ – „Vergebt niemals“ rufen die Opfer des Nazi-Regimes, eine Gruppe von jüdischen Frauen, die von der hartherzigen Aufseherin Lisa Franz drangsaliert werden. Jahre später glaubt Lisa, eines ihrer vermutlich überlebenden Opfer auf einer Schiffspassage nach Brasilien wieder zu erkennen. Die Handlung läuft dann in zwei Ebenen, die Erinnerung an das Lagergeschehen und ihr überaus pflichtbewusstes Handeln, das nunmehr in Konflikt mit der Einstellung und Position ihres Ehemanns Walter steht, der als deutscher Botschafter nach Brasilien entsandt ist. Ihr Geständnis zeigt keine Reue oder Schuldbewusstsein, die Verherrlichung ihrer Taten ist erschütternd. Die gesellschaftspolitische Aussage bestechend verpackt, die Aktualität größer denn je. Der Erfolg des Werkes sollte helfen, die Gräueltaten und Unmenschlichkeit von totalitären Regimen nicht zu vergessen.

Die Handlung fußt auf einer wahren Geschichte der Polin Zofia Posmysz, die sie in einen Roman gegossen hat. Dimitri Schostakowitsch erkannte die Brisanz und Kraft des Werkes und beauftragte Alexander Medwedew ein Libretto zu verfassen. Sein Freund Mieczysław Weinberg komponierte sein bedeutendstes Werk. Seine Musik ist geprägt von intimer Gefühlstärke, seelischer Verinnerlichung und klarer Tonsprache. Dabei übernimmt er Stilmittel des Expressionismus, der Romantik, des Jazz, Barock bis zur Volksmusik. Die Orchesterbesetzung ist groß und ermöglicht viele Klangfarben. Rhythmische Elemente steigern die Dramatik, wuchtige Entladungen kommen nur in geringem Maße vor.

Roland Kluttnig gelingt am Pult eine prägnante, sehr gut ausbalancierte musikalische Interpretation. Bis in die seitlichen Logen verteilt sitzen die Musiker, die der Dirigent einbeziehen muss und dabei auch den Sängern klare Einsätze anzeigt. Deutlich ist eine Klangsprache spürbar, die unaufdringlich erscheint, aber ihre Wirkung nicht verfehlt.

Intelligent und subtil gestaltet Nadja Loschky ihre Regie. Die Bühne von Etienne Plus bleibt den gesamten Abend unverändert, ein schmuckloser, weiß vergilbter Raum dient als Lager sowie das Innere eines Schiffes. Die Monotonie im Bild steigert die Dramatik und lässt die beiden Zeitebenen geschickt verschmelzen. Lagerwärter, Lagerinsassen, Schiffsgäste und – personal erscheinen gleichzeitig auf der Bühne und treten in beiden Zeitebenen auf. Genauso ausgeklügelt ist die Personenregie, die große Momente der intimen Nähe, der schicksalhaften Macht und Machtlosigkeit im Raum kreiert.

All das gelingt dem großartig agierenden Sängerensemble umzusetzen. Dshamilja Kaiser präsentiert ihren kräftigen Mezzosopran in klarer Färbung als unbelehrbare Lisa. Darstellerisch wird die Rolle in mehrfacher Besetzung umgesetzt. Isabella Albrecht ist die alte Lisa, die den gesamten Abend sehr markant auf der Bühne begleitet und zuletzt auch ein paar Worte spricht. Viktoria Riedl ist die junge Lisa, die in militärischem Drill ihr Unwesen treibt. Will Hartmann ist ihr Gatte Walter, der am Geständnis Lisa zu zerbrechen scheint. Tief sitzt sein Tenor mit baritonalem Timbre. Wohl versteht er den zumeist als Sprechgesang gefassten Part gesanglich auszukleiden.

Nadja Stefanoff gelingt als Marta die überzeugendste Darstellung des Abends. Mit Grandezza erträgt sie die Erniedrigungen, im Stolz ungebrochen. Weich und lyrisch tritt sie mit Markus Butter in der Rolle ihres Verlobten Tadeusz auf.

Als ihre Mithäftlinge im Lager verströmen Eva Maria Schmid als Katja, Antonia Cosima Stanen als Krystina, Anna Brull als Vlasta und Sieglinde Feldhofer als Yvette betörenden Gesang der Verzweiflung, aber auch der inneren Verbundenheit im todbringenden Schicksal. Die Lagerszenen ergreifen musikalisch und haften im Gedächtnis des Zuhörers.

Einen großen Opernabend hat das Grazer Opernhaus gestaltet und damit einem Werk, das seine Stellung in der Opernliteratur zurecht hat, zu weiterer Bekanntheit und insbesondere seiner gesellschaftspolitischen Aussage wiederum eine Stimme gegeben.

Großer Beifall beim Publikum und Begeisterung für die Künstler. Ein ergreifender Abschied, bevor Kultur wieder von Politikern weggesperrt wird, eine gesellschaftspolitische Aussage, die auch in diesem Werk steckt.

Helmut Pitsch