O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sascha Kreklau

Aktuelle Aufführungen

Irrwege des Lebens

DAS WUNDERTHEATER/WACHSFIGURENKABINETT
(Hans Werner Henze, Karl Amadeus Hartmann)

Besuch am
26. Mai 2022
(Premiere)

 

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Illusion, Lebenslüge, Bigotterie, Aufruhr, mediale Hysterie: Ein ganzes Kaleidoskop menschlicher und gesellschaftlicher Fehlentwicklungen nimmt ein Doppelabend des Musiktheaters im Revier mit zwei Kammeropern von Hans Werner Henze und Karl Amadeus Hartmann aufs Korn.

Hans Werner Henzes Kurzoper Das Wundertheater und Hartmanns fünfteiliges Panoptikum Wachsfigurenkabinett werden derzeit als Abschlussarbeit des Opernstudios NRW im Kleinen Haus gezeigt, einer Kooperation der Opernhäuser von Essen, Dortmund, Wuppertal und Gelsenkirchen. Anspruchsvolle, gleichwohl spielfreudige Stücke, das richtige Futter für junge Gesangstalente am Anfang ihrer Karriere.

Für das neu gegründete Opernstudio der Bayerischen Staatsoper komponierte Hartmann um 1930 sein Wachsfigurenkabinett, hinterließ das Werk aber unvollendet, und so wurde es erst 1988 in einer vervollständigten Version uraufgeführt. An der Rekonstruktion war auch Hans Werner Henze beteiligt, dessen Wundertheater 1948 inhaltlich und stilistisch vorzüglich zu Hartmanns Opern-Quintett passt.

Das Wundertheater geht auf eine Episode aus Cervantes Don Quichotte zurück, in der eine Gauklertruppe dem versnobten Publikum suggeriert, nur aufrichtige und ehelich gezeugte Christen könnten das Spektakel wahrnehmen. In Wirklichkeit wird nichts gezeigt. Die Zuschauer überschlagen sich vor lauter Entzücken über die angeblichen Abenteuer, geraten bei der Ankündigung eines wilden Stieres in Panik und als ein ahnungslos hinzustoßender Soldat erkennen lässt, dass er nichts erkennen kann, wird er von der empörten Meute zusammengeschlagen.

Foto © Sascha Kreklau

Zum 19-köpfigen Instrumentalensemble gehören auch Harfe und Cembalo, die der moderat frei tonal gefassten, rasant ablaufenden Klangkulisse einen barocken Akzent verleihen. Man hört Henzes Musik die Erleichterung an, sich 1948 endlich wieder inhaltlich und musikalisch frei und ungefährdet austoben zu können.

Die Bühne des Kleines Hauses wird dafür von Regisseurin Zsófia Geréb und Ausstatter Ivan Ivanov so effektiv wie möglich genutzt, indem das Orchester im Parkett angesiedelt wird. Das Publikum hat von der Empore besten Ausblick auf das Geschehen. Ein flexibel verschiebbares Treppenkonstrukt bildet den Kern der praktikablen Ausstattung. Völlig ausreichend, wenn die jungen Solisten von der Regisseurin so lebendig und kreativ geführt werden wie in Gelsenkirchen.

Noch mehr Abwechslung verbreitet Hartmann mit den fünf Mini-Opern des Wachsfigurenkabinetts, in denen der widersprüchliche Hype um Rasputin am zaristischen Hof, die traumatische Angst eines Kapitalisten vor einer sozialen Revolte, Identitätskrisen im skurrilen Format einer Karl-Valentin-Posse oder der brüchige und verlogene Star-Rummel im finalen „Chaplin-Ford-Trott“ Auswüchse menschlicher Irrwege kombiniert, die Hartmann 1930 noch mit spitzer, aber entspannter Ironie kommentiert. Angereichert mit flotten Anspielungen an die Jazz- und Schlagermoden der Zeit. Die Katastrophe, in die mancher dieser Irrwege wenige Jahre später führen sollte, konnte Hartmann noch nicht ahnen, und die Regisseurin unterlässt es auch, Bezüge zur braunen Diktatur herzustellen. Durchaus zu Recht. Umso intensiver können sich die stimmlich vorzüglich vorbereiteten Sänger auf die vokalen und szenischen Herausforderungen der kleinen, aber nicht einfachen Stücke konzentrieren. Da sowohl Henze als auch Hartmann die vielen Rollen in etwa gleichwertig behandeln, ist der Abend vor allem als gelungene Ensembleleistung und reiche Erfahrung für die Nachwuchskräfte zu bewerten.

Zum reibungslosen und vergnüglichen Ablauf des Abends trägt nicht zuletzt die Neue Philharmonie Westfalen unter Leitung von Gregor Rot bei. Kurzer, aber heftiger Beifall für einen ebenso kurzweiligen Abend.

Pedro Obiera