Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
OTELLO
(Gioachino Rossini)
Besuch am
23. Oktober 2021
(Premiere)
1816 geht es Rossini bei seiner dritten Oper für Neapel nach dem Buffa-Erfolg von La Gazzetta primär um die Musik. Um eine Fortsetzung und Steigerung seines Kompositionsstils, der ganz Italien, später Paris entzückt. Es gelingt ihm souverän mit der virtuosen Partitur auf das Libretto von Francesco Maria Berio, das auf Shakespeares gleichnamiger Tragödie basiert. 2021 geht es im Musiktheater im Revier (MiR) in Gelsenkirchen Regisseur Manuel Schmitt primär um eine ideologiegerechte Vermittlung der Geschichte vom Außenseiter, dem die sich überlegen fühlende Gesellschaft keine Chance lässt. Und genau da beginnen die Probleme dieses Otello.
Generalintendant Michael Schulz stellt in der aktuellen Programmzeitung zur Spielzeit 21/22 die Programmatik des Hauses unter die Formel des Strebens nach der „gerechten Gesellschaft“. Das MiR wolle Geschichten zu den großen Themen der Gesellschaft erzählen. Darunter solche, die sich mit dem Konzept der diversen Gesellschaft auseinandersetzen. Daran knüpft Schmitt, Absolvent der bayerischen Theaterakademie August Everding, an, indem er seinen Otello im aktuellen Europa der Flüchtlings- und Wertekrise ansiedelt. Um es vorweg zu sagen: Die Idee oder vielleicht die Praxis der europäischen Völkerverständigung, die immerhin den Jahrzehnte währenden Nationalkriegen den Boden entzogen hat, kommt hier nicht gut weg.
Schmitt, in Gelsenkirchen mit einer passablen Inszenierung von Bizets Perlenfischer von 2018 ein Begriff, wählt als Szenerie für den Plot das „Haus Europa“. Das wird durch den Schriftzug In Varietate Concordia an diesem „Haus“ deutlich, der seit zwei Jahrzehnten der EU als Motto dient. Aber stimmig ist das alles wie auch Schmitts Vorstellung von der EU nicht. Die Besucher sehen die Buchstabenzeile anfänglich nur spiegelbildlich. Im dritten Aufzug bröckelt sie wie der Staatenverbund Europas, der in ein Set nationaler Interessen zerfallen könnte.
Julius Theodor Semmelmann, der für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, hat zu Schmitts Idee ein modernes Townhaus geliefert, mit zwei Stockwerken und einer Außenveranda, auf der später der Harfenistin Lucilla Weyer zu Desdemonas Lied von der Weide eine hinreißende Untermalung gelingt. Edel möbliert ist das „Haus Europa“. Ein Luxusbett, Bettwäsche aus Seide, ein Kristalllüster, den Patrick Fuchs für allerlei Lichteffekte nutzt. Edel ja, aber nicht nobel.
Foto © Björn Hickmann
Zu besichtigen ist eine ganze Parade von Kunst aus Ländern der Kolonialzeit, die die Assoziation von Raubkunst erweckt. Ferner zu sehen sind Wiedergaben von zwei bekannten Gemälden, die exakt denselben Effekt auslösen. Einmal Das Floß der Medusa von Théodore Géricault von 1816, als der Otello entsteht. Das Zeugnis einer Schiffskatastrophe, als viele Menschen ertrinken – so wie heute Menschen auf der Flucht Richtung Europa ertrinken. Zum zweiten Olympia, das Gemälde Edouard Manets von 1863, in dem eine schwarze Dienerin der weißen Frau assistiert. Durch das – was aber hier wohl nicht hingehört – das weibliche Selbstbewusstsein in der Malerei erstmals Gestalt annimmt.
Links neben dem Haus ist die Skulptur eines stattlichen Bullen aufgestellt, wie man ihn von der Frankfurter Börse kennt. Vermutlich das Symbol für den Mechanismus des Kapitalismus als wirkliche Basis der EU. Im Schlussbild liegt der Stier auf der Seite, als wäre die Finanzkrise nicht gelöst. Desdemona, die ihn anfänglich mit einem Lappen poliert, schmiegt sich nun an ihn. Trost suchend. Es geht nobel zu im Haus Europa. Iago und Rodrigo bevorzugen das Golfspiel. Das Schöne am Golfspiel ist, dass man mit den Schlägern aufeinander eindreschen kann. Exakt das deuten die beiden Rivalen dann auch an.
Mit dem Fortgang der Handlung ist das „Haus Europa“ immer weniger gut bestellt. Nicht nur Otello, vermutlich der Hausherr, wird ausgegrenzt. Bewaffnete Milizen umzäunen es mit Stacheldraht. Plünderer schleppen das teure Inventar weg, Stühle, Geschirr und selbst das Bett. Die Gemälde, also kulturelle Werte, werden zu Geld gemacht. Um ihr Eigenes gebracht. Wie die Kultur in der Pandemie?
In den Kostümen von Carola Volles zeigen sich die Menschen uniform in Weiß mit Perücken, gegen die Otello anrennt wie gegen eine Wand. Noch ein Bild für den Teil der europäischen Gesellschaft, der in der Abschottung des Kontinents eine Lösung aus dem Dilemma mit den Migranten sieht? Dagegen kann auch Otello mit seinem feinen, schwarzen Anzug nicht an, der ihn zum gleichberechtigten Mitglied – sagen wir – eines Aufsichtsrats machen könnte. Anpassung, so die Lektion, ist offenkundig kein Konzept. Die übrigen Protagonisten bewegen sich in Straßenanzügen und Sneakers, eine Uniformierung, die bei Inszenierungen von Opern mit historischen Wurzeln oder Themen langsam ausgedient haben könnte. Unter denselben Gedanken dürfte auch die Entscheidung fallen, die Chorsänger mit Handykameras auszurüsten und in Gruppen Selfies mit denen „da oben“ auszutauschen.
In diesem Ambiente ist Schmitts Personenregie folgerichtig. Sein Otello ist primär nicht der um Liebe, Glück und Leben gebrachte Außenseiter, sondern der soziale Absteiger in der entsolidarisierten europäischen Gesellschaft. Das ist nicht wirklich neu, wird hier nur noch drastischer ausgespielt als in Berios Vorlage. Die Höflinge pöbeln ihn als „Affen“. Kinder bewerfen ihn mit Bananen. Ist das Konzept insofern schlüssig, ist es indes nicht unproblematisch. Dass Iago Emilia pleint publique erwürgen muss, ist willkürlich. Längst ist dem Publikum ihre Beteiligung an der Intrige klar. Für die Zweifler gibt es ja die deutschen Übertitel. Und warum Desdemona, gewiss keine X-Beliebige in der venezianischen Gesellschaft, auf die Figur der wütenden Furie reduziert wird, die ständig unterwegs ist und außer im Schmerz und Tod keine Ruhe findet, bleibt auch offen.
Ein vorzüglicher Einfall ist es, das Hornsolo im ersten Akt als Auftritt vor dem Senat zu inszenieren. Der Kunst gleichsam die Bühne auf der Bühne zu bereiten. Es führt aristokratisch ausschreitend hin zur Arie Inutile è quel pianto der Desdemona und zum anschließenden Duett mit Emilia Vorrei, che il tuo pensiero. Die Hornistin Sietske van Wieren gestaltet es formidabel, wenn auch nicht ganz frei von Unsauberkeiten. Gleichwohl, eine vorzügliche Leistung. Es ist ja notabene ein Live-Auftritt vor der hohen Gesellschaft.
Wie bei Rossinis Armida verblüfft die Besetzung des Otello mit einem überdurchschnittlichen Aufgebot an Tenören. Zu erklären ist das mit der damaligen sängerischen Situation am Teatro del Fondo in Neapel. Fünf sind es, unter Einschluss der kleineren Rolle des Gondoliere und des Dogen sogar sechs. Das Musiktheater im Revier – alle Achtung – ist in der Lage, sie bei Ausnahme der Rolle des Rodrigo aus dem Ensemble zu besetzen.
Tenor ist in diesem Prachtwerk des romantischen Belcantos freilich nicht Tenor. Nach Rossinis Idealvorstellung unterscheiden sich die diversen Tenorfarben beträchtlich. Die Titelfigur soll ein dramatischer Tenor sein, Rodrigo, der verschmähte Liebhaber, ein eleganter, zu Spitzentönen befähigter Tenor, wie er heute mit dem Begriff Tenore di grazia gefasst wird. Jago sollte seine finsteren Pläne mit einer baritonalen Grundierung verfolgen.
Wegen der vokalen Power, die auf der Bühne des MiR explodiert, lohnt ein Besuch der Produktion auf jeden Fall, auch wenn gewisse Einschränkungen zu machen sind. Die Titelpartie verlangt einen Sängerdarsteller, der sich zerreißt, als ginge es um alles. Khanyiso Gwenxane ist dieser elementar durchgerüttelte Mensch, der an den Barrieren der Mehrheitsgesellschaft scheitert, leider nur darstellerisch. Seine vokale Performance bleibt hinter seinem Spiel zurück. Schon beim ersten Duett mit Iago Ah!, si, per voi gia sento mit seinen eruptiven Koloraturen, in die dann der Chor einfällt, werden die Abstriche in Stimme und Phrasierung deutlich. Am MiR hat der aus Südafrika stammende Sänger vor einiger Zeit mit einem auf Russisch gesungenen Lenski überzeugt. Rossinis Otello ist eine andere Welt.
Foto © Björn Hickmann
Irgendwie versöhnlich, dass gleich neben Gwenxane der Rossini-Tenor dieser Produktion agiert. Der aus den USA stammende Benjamin Lee als Rodrigo, der die Partie auch schon am Theater Magdeburg gesungen hat. Mit seinem gefälligen Timbre, seiner technisch gekonnten Linienführung und dank gelungener Spitzentöne avanciert er zur Stimme des Abends, zumindest unter den Männern. In der Arie Ah! come mai non senti auf der Folie der jubelnden Klarinette, die Regis Vincent formidabel beisteuert, ist er einfach Extraklasse. Brilliant zusammen mit Iago in dem Bravourstück No, non temer. Und mit wunderbarer Phrasierung im Terzett Ti parli d’amore, gemeinsam mit Elmiro und Desdemona, als er von der heimlichen Verheiratung von Otello und Desdemona erfährt. Summa summarum ließe sich glatt von Rodrigos Otello sprechen.
Als Iago strahlt Adam Temple-Smith vokal nicht die kriminelle Energie aus, die ihn umgibt und in der Erdrosselung von Emilia gipfelt. Nun ist diese Rolle auch deutlich schwächer als bei Giuseppe Verdi angelegt, der bei seiner Fassung des Stoffs 70 Jahre nach Rossini den von Ränken erfüllten Rivalen Rodrigos aufwertet und zum Antipoden Otellos auf Augenhöhe macht.
Die Desdemona der Sopranistin Rina Hirayama ist als wütende Furie wie als geprellte Liebende eine starke Erscheinung. Eine sich höchst affektiv entäußernde Frau in diesem Drama, das sich vor ihren ungläubigen Sinnen abspielt. Längst bevor sie ihr Lied an die Weide Assisa a’pié d‘un salice wie ihr Gebet zur Nacht Del calma, o Ciel, nel sonno berührend interpretiert, hat sie das Publikum bereits gewonnen. So etwa im Terzett des zweiten Akts Ah vieni, nel tuo sangue le offese mit Otello und Rodrigo, als sie gleich von beiden der Untreue bezichtigt wird.
In der zweiten Frauenrolle hat die insgesamt überzeugende Mezzosopranistin Lina Hoffmann als Emilia in ihrem Solo-Rezitativ zu Beginn des dritten Aktes Dagli affani oppressa ihren größten Moment. Urban Malmberg gibt Elmiro, den Vater Desdemonas, mit solidem Bass und patriarchalischer Figur, die er in einer Szene prägnant mit Schiebermütze und Gewehr in der Hand verkörpert. Tobias Glagau als Doge, Gondoliere sowie Camilo Delgado Díaz als Otellos Freund Lucio ergänzen den positiven Gesamteindruck adäquat.
Giuliano Betta am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen zeigt gleich mit zügigen Tempi für die Ouvertüre, wohin die Rossini-Reise gehen wird, nämlich in die Offensive. Sein temperamentvolles Dirigat verwöhnt die Sängerdarsteller insbesondere in den gelungenen Ensemblenummern mit gefühlvoller Geschmeidigkeit. Der von Alexander Eberle kompetent eingerichtete Chor nutzt die „schönen Stellen“, die Rossini ihm geschenkt hat, mit Pracht und Wonne.
In die Bühnengeschichte eingehen wird der MiR-Otello womöglich durch den dramaturgischen Eingriff in den Ablauf der Handlung, zu dem die Besucher gleich beim Eingang eingeladen werden. Heben sie, aufgefordert vor der Schlussszene, die weiße Seite einer Stimmkarte, greifen sie angeblich in das finale Geschehen ein. Maxime: Desdemona handelt. Heben sie die schwarze Seite, nimmt die Dinge den vorgezeichneten Verlauf entsprechend dem liete fino, das Rossini drei Jahre nach Neapel für Rom in das Werk einbaut. Das Publikum entscheidet sich für eine Desdemona, die ihr Schicksal in die Hand nimmt. Eine Art emanzipatorischer Variante. Doch Regisseur Schmitts Versprechen, es könne „über eine wichtige Entscheidung“ abstimmen, erweist sich als Farce.
Spare nicht den Schlag … Triff dieses Herz, stille nun deine grausame Rache … Und später: Töte mich … beeile dich, stille deine Rache! läuft in den deutschen Übertiteln durch. Am Ende sind beide tot. Desdemona erwürgt durch den rasenden Otello, dieser durch die eigene Hand. Im Unterschied zum Libretto Berios nicht durch die Stichwaffe, sondern einen Pistolenschuss.
Das Publikum reagiert im Schlussjubel, als befände man sich beim Rossini-Festival in Bad Wildbad oder Pesaro. Der anhaltende Beifall für alles, was an dieser Produktion Anteil hat, bezieht auch das Regieteam ein. Prima la musica, dopo le parole? Die Rivalität geht diesmal klar zugunsten der Musik aus. War da sonst noch etwas? Wohl nicht. Rossini hätte jetzt den Musikanten gedankt und sich in die Küche zurückgezogen. Zu seinen Tournedos zum Beispiel.
Ralf Siepmann