O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Bettina Stöß

Aktuelle Aufführungen

Zwischenwelten

DEMETRA
(Anat Oz, Frank Fannar Pedersen, Javier Rodríguez Cobos)

Besuch am
30. März 2023
(Premiere am 18. März 2023)

 

Musiktheater im Revier, Kleines Haus, Gelsenkirchen

Giuseppe Spota, Chef der „MiR Dance Company Gelsenkirchen“ – das ist das Ballett am Theater in Gelsenkirchen – hat Choreografen ins Ruhrgebiet eingeladen, um Werke zum Thema Demeter zu kreieren. Als gebürtiger Italiener benennt er den Abend mit einem italienischen Namen. Demetra ist die italienische Übersetzung für die Muttergöttin Demeter, die in der griechischen Mythologie zuständig für die Fruchtbarkeit der Erde, des Getreides und der Saat ist.

Für das Verständnis des Abends kann es nicht schaden, den Raub der Persephone zu kennen. Hades wünscht sich eine Frau und entführt zu diesem Zweck die Tochter Demeters, eben Persephone. In der Folge verbietet die Frau des Zeus den Pflanzen zu wachsen, den Bäumen, Früchte zu tragen und den Tieren, sich zu vermehren. Als die Menschen anfangen zu sterben, schaltet sich Zeus ein und fordert Hades auf, Persephone wieder herauszugeben. Schön, auch damals gab es Kompromisse. Die Wintermonate musste Persephone auch weiterhin in der Unterwelt verbringen, um über die Toten zu herrschen, den Rest des Jahres durfte sie bei ihrer Mutter leben. Der Kreislauf der Welt war wieder hergestellt.

Geboren ist Anat Oz in Israel, wo sie auch ihre Tanzausbildung absolvierte und erste Erfolge als Choreografin feierte. Auch in Deutschland räumt sie einen Preis nach dem anderen ab, während sie mit ihren Werken längst durch die Festivals der Welt tourt. Im Kleinen Haus des Musiktheaters im Revier stellt sie ihre Uraufführung Crossed in Gold vor, einen Tanzabend für fünf Tänzer, bei dem sie auch Bühne und Kostüme besorgt. Anfangs ist die Bühne leer. Ein Tänzer lehnt am Bühnenrand, drei weitere haben sich hinter der geöffneten Tür der Bühnenrückwand positioniert. Thomas Ratzinger sorgt mit ausreichendem Licht dafür, dass hier keiner ungewollt im Dunkel stehen bleibt. Oz dreht die Geschichte weiter. Denn Persephone hat einen Bruder. Ploutos ist der blinde Gott des Wohlstands, der Ressourcen und des Reichtums. „Er wurde in einem nährstoffarmen, dreimal gepflügten Feld gezeugt, das dadurch fruchtbar wurde“, ist im Abendzettel zu lesen. Was aber, wenn der die Oberhand gewinnt? Wenn der Kreislauf des Lebens durch Geldströme gestört wird? Dieser Frage geht Oz nach. Neben einer abwechslungsreichen Bewegungssprache, in die Geldscheine vom Himmel herabregnen, macht sich erst ein Schatten bemerkbar, ehe die Menschen versuchen, abseits des Geldrauschs zur Gemeinsamkeit und damit wieder in einen „gesunden“ Kreislauf zu finden. Untermalt wird die Geschichte mit der Musik von Ari Jacob und Frédéric Chopin, nachdem die Tänzer im ersten Teil summend für Lautmalerei sorgen. Yu-Chi Chen, Marie-Louise Hertog, Eleonora Robson, Inwoong Ryu und Dex van ter Meij sorgen mit viel Abwechslung dafür, dass die Choreografie zum Erfolg wird. Und doch ist sie nur das Vorspiel für den nachfolgenden Auftritt.

Umso unverständlicher, dass nach der Pause etliche Plätze im ansonsten gut besuchten Haus leer bleiben. Frank Fannar Pedersen kommt gebürtig aus Island, lebt heute in der Schweiz und ist seit vergangenem Jahr Tanzdirektor am Theater St. Gallen. Der Spanier Javier Rodríguez Cobos hat in Madrid studiert, arbeitete in Mulhouse, Arnheim und jetzt in Basel als Tänzer und immer häufiger als Choreograf. Die beiden haben zusammen mit den Tänzern der Gelsenkirchener Ballett-Compagnie Fields of Asphodel kreiert. Die Asphodeloswiese ist der Zwischenbereich des Hades, in dem die Seelen der Verstorbenen umherwandern, die „nicht böse genug“ sind, „um die Qualen des Tartarus zu erleiden und nicht heldenhaft genug, Glückseligkeit in Elysium genießen zu dürfen“. Pedersen und Cobos sehen die Wiese als einen Raum der Verstrickungen, und so liegt zu Beginn der Aufführung ein zusammengeknäueltes Netz in der Mitte der Bühne, auf dem Joonatan Zaban die Tänzer einsammelt, indem er sie aus den Bühnenabgängen hervorzieht. Mit Ain’t no sunshine von Bill Withers beginnt die „Handlung“.

Während das Netz weiter und weiter aufgezogen wird, um schließlich wie ein Zelt die Bühne auszufüllen, arbeiten sich Konstantina Chatzistavrou, Tanit Cobas, Simone Frederick Scacchetti, Einav Kringel, Alessio Montforte und Pablo Navarro Muñoz aneinander ab. Dass Thomas Ratzinger dabei Einzelpersonen immer wieder in der Dunkelheit zurücklässt, ändert nichts daran, dass er das Hauptgeschehen ausreichend dramatisch ausleuchtet. Zur Musik von den Eagles, Aromático, Greg Haines, Laurie Anderson und dem Kronos Quartett versuchen die Tänzer, sich individuell auszuleben, in Paaren zueinanderzufinden oder – sicher die stärksten Stellen, weil auch die ungewöhnlichsten Schrittfolgen – als Corps zu funktionieren. Zwischenzeitlich werden sie kommandiert, was auch Erniedrigung und Verlust der eigenen Handlungsfähigkeit bedeutet.

Und während die Musik wieder zu der Seelenballade zurückkehrt, treten die Tänzer einzeln wieder ab, zurück in ihre Einsamkeit. Was nun das bessere Los ist – wer will das wissen? Sicher aber ist, dass hier ein grandioser Tanzabend zu Ende geht, der vom Publikum zu Recht bejubelt wird. Es ist lange her, dass man einen solch opulenten wie originellen Tanzabend erleben durfte.

Michael S. Zerban