O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Unterdrückte Gefühle

BILLY BUDD
(Benjamin Britten)

Besuch am
25. März 2023
(Premiere)

 

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Einen großen Wurf landet das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen mit einer Neuinszenierung von Benjamin Brittens Oper Billy Budd. Die begeisterten Reaktionen des Premieren-Publikums fallen entsprechend einhellig aus. Als Dank für einen Kraftakt der besonderen Art. Denn gefordert sind allein 15 männliche Solisten, dazu ein monumentaler Männerchor und eine stattliche Statisten-Phalanx.

Entsprechend selten ist das Werk zu sehen. Die wenigen Produktionen, in den letzten Jahrzehnten auch die in Köln und Düsseldorf, hinterlassen jedoch stets nachhaltige Eindrücke. In keiner seiner relativ vielen erfolgreichen Opern hat Britten seine pazifistische Gesinnung und seine homosexuelle Neigung so eng miteinander verknüpft wie in der Geschichte um den grundehrlichen Matrosen Billy Budd nach einer Vorlage von Herman Melville. Die harte Männerwelt auf dem englischen Kriegsschiff Indomitable – die Unbezwingbare – ist von Unterdrückung, Gewalt und innerer Leere geprägt. Lediglich die zweifelhafte Vorfreude auf einen Angriff auf den französischen Feind hält die sinkende Laune der Mannschaft aufrecht. Gefühle haben da keinen Platz und schlagen sich in unterdrückten homoerotischen Fantasien nieder. So wird der ebenso naive wie attraktive Billy Budd zum Objekt der Begierde des gefühlsrohen Waffenmeisters Claggart und des kultivierten Kapitäns Vere. Begierden, die sich nicht ausleben lassen, was Billy Budd zum Verhängnis wird. Claggarts Gefühle schlagen in Hass um. Er bezichtigt „Baby Budd“ der Anstiftung zur Meuterei. Der erschlägt Claggart in einem Anfall hilfloser Wut und der Kapitän tut nichts, um Budd vor der Todesstrafe zu retten. Stattdessen ergeht er sich in heftigen Vorwürfen und Zweifeln.

Britten war als Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg und als Homosexueller ungeachtet seines Ansehens als prominentester englischer Komponist seiner Generation selbst Vorurteilen und teilweise heftigen Angriffen ausgesetzt. Was man jedem Takt der schmerzlich eindringlichen Musik anhört. Regisseur Michael Schulz arbeitet die pazifistischen und homoerotischen Ebenen des Stücks klar, aber feinfühlig und nie plakativ heraus. Die Aggressionen innerhalb der Mannschaft werden nicht durch oberflächlichen Aktionismus zum Ausdruck gebracht, sondern durch eine detaillierte Personenführung, wobei der eindrucksvolle, dynamische Umgang mit den Chormassen erneut beweist, dass Schulz sein Handwerk beherrscht. Die Brutalität Claggarts schlägt sich nicht in Gewaltakten nieder, sondern in dessen Gestik und, als optisches Beiwerk, einer Todesallegorie in Gestalt eines Pestdoktors.

Auch die erotischen Konflikte werden deutlich gezeichnet, aber mit sensibler Dezenz, allenfalls durch einige androgyne Statisten aufgepeppt. Das alles spielt sich in der düsteren, einschüchternden Kulisse von Bühnenbildner Dirk Becker ab. Die Bühne teilt sich in zwei Ebenen, der spießbürgerlich harmlosen Kajüte des Kapitäns und einem monumentalen Schiffsraum, dessen Bullauge im Hintergrund an ein Tor zur Hölle erinnert.

Es sind die inneren Konflikte Claggarts und des Kapitäns, die Britten und auch den Regisseur besonders anrühren. Die ziemlich unbedarfte Titelfigur bekommt erst in dem langen Schlussmonolog vor ihrer Hinrichtung stärkeres Profil. Hier hält sich Schulz sehr zurück, so dass Dominik Köninger, trotz der ausdrucksstarken Schluss-Szene, stets im Schatten seiner mächtigen Liebhaber bleibt. Michael Tews überzeugt als Claggart mit seinem rabenschwarzen Bass und seinem dämonischen Charisma auf ganzer Linie. Die feige Wankelmütigkeit des Kapitäns kann Martin Homrich, ungeachtet einiger Probleme in der Höhe, subtil vermitteln. Unter den restlichen zwölf Solo-Rollen verdient noch Joachim G. Maaß als alter Matrose Dansker besondere Erwähnung. Ansonsten beeindruckt die Produktion als geschlossene Ensembleleistung. Und nicht zuletzt durch den Einsatz des erweiterten Herrenchors, der quasi eine Hauptrolle einnimmt. Und das mit Druck und Nachdruck.

Rasmus Baumann am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen hält die Fäden der mehr als dreistündigen Aufführung fest in Händen, führt den vielköpfigen Apparat sicher durch alle Klippen, schlägt im Schluss-Monolog arg zähe Tempi an, vermag aber den gesamten Abend unter Spannung zu halten.

Verdienter Beifall für alle Beteiligten.

Pedro Obiera