O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Aktuelle Aufführungen

Bilanz beim Nachbarschaftsfest

ÄCKER DES RUHRGEBIETS
(Diverse Komponisten)

Besuch am
4. September 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Neighboring Satellites, Ernst-Käsemann-Platz, Gelsenkirchen

In der Sitzung vom 6. November 2012 hat die Bezirksvertretung Gelsenkirchen-Süd einstimmig beschlossen, dem Rotthauser Marktplatz den Namen Ernst-Käsemann-Platz zu verleihen. Damit wird des Pfarrers Ernst Käsemann gedacht, der von 1933 bis 1946 die evangelische Gemeinde in Gelsenkirchen-Rotthausen leitete und gegen die nationalsozialistische Diktatur Widerstand leistete. Es ist ein gemütlicher, überschaubarer Platz, abseits der Durchgangsstraße, für den Autoverkehr unzugänglich, von vier Seiten umbaut. Ein kleiner Spielplatz am Rand rundet das Ensemble ab. Hier hat die Initiative Neighboring Satellites unter Leitung von Christoph Lammert zum Nachbarschaftsfest eingeladen und eine Bühne aufgebaut. Schade, dass nur wenige Menschen dieser Einladung gefolgt sind, denn an diesem Abend ist ein ganz besonderes Programm vorgesehen.

Tabea Farnbacher – Foto © O-Ton

Anders als andere Orchester oder Ensembles hat das Ensemble Ruhr keine Scheu vor ungewöhnlichen Spielstätten. Altenheim, private Gärten, die Jahrhunderthalle Bochum oder auch mal auf Zeche Zollverein – das Ensemble zeigt keine Berührungsängste, allenfalls vor herkömmlichen Konzertsälen, vielleicht. Und so fiel es Barbara Wagner, der Geschäftsführerin des Ensembles, leicht, die Anfrage von Lammert nach einem Auftritt beim Nachbarschaftsfest zu bejahen. Nach der Uraufführung ihres neuen Programms Äcker des Ruhrgebiets einen Abend zuvor auf Zeche Zollverein konnte dem Ensemble eine weitere Aufführung sicher nicht schaden. Dass der Einladung zu diesem kleinen Fest bei bestem Wetter am Wochenende und bei „freiem Eintritt“ nur wenige Menschen folgen würden, damit war nicht zu rechnen. Das Ensemble lässt sich keinen Moment die Enttäuschung anmerken, dass vor der Bühne weniger Menschen als auf der Bühne sitzen. Das zeugt von wahrer Größe.

Das Ensemble Ruhr ist bekannt dafür, die Strukturen herkömmlicher Konzertformate aufzubrechen. Zu ihrem neuen Programm haben sie Tabea Farnbacher eingeladen, ihre Poetry-Slam-Texte in die klassische Musik einzubauen. Die Psychologin hat bereits in jungen Jahren Erfolge im Poetry Slam verzeichnen können. Jetzt steht die kleine Person still, bescheiden, mit freundlich zugewandtem Blick unter den Musikern neben der Bühne und wartet auf ihren Auftritt. Warum die Musiker sie ausgewählt haben, den Abend zu bereichern, wird kurz darauf deutlich. Das an diesem Abend zwölfköpfige Orchester unter der Leitung von Stefan Hempel beginnt mit einer Elegie von Giacomo Puccini, in die sich Farnbacher gleich mal wortgewaltig einmischt.

Stefan Hempel – Foto © O-Ton

Ende 2018 wurde die letzte Tonne Steinkohle gefördert. Besonders für das Ruhrgebiet bedeutete es das Ende einer langen Tradition. Und obwohl Eisen und Stahl längst keine tragenden Säulen der Wirtschaft mehr sind, seien sie noch immer identitätsstiftend, sagt das Ensemble Ruhr. Schwarze Schornsteine, rote Stahlöfen und natürlich die Kameradschaft der Kumpel – kaum eine Region wecke so zuverlässig Bilder im Kopf wie das Ruhrgebiet. Ist das wirklich so? Farnbacher versucht auf poetischem Wege eine Bilanz. Ihr gelingen starke Bilder, die umso mehr wirken, als sie ohne Autorität auftritt. An mancher Stelle wünschte man sich abseits des Poetry-Slam-Singsangs ein wenig mehr Intonation, mehr Akzent, aber letztlich überzeugt sie mit ihren Bildern, die die Vergangenheit kaum nostalgisch schön malen, der Gegenwart eine Berechtigung schaffen und an die Zukunft Fragen stellen.

Währenddessen und zwischendurch erklingt Joseph Haydns Konzert Nr. 4 mit einem wunderbaren Solo von Stefan Hempel an der Geige. Anna Betzl-Reitmeier und Antje Weltzer-Pauls, die eine am Cello, die andere an der Geige, haben als Künstlerische Leiterinnen des Ensembles das Programm zusammengestellt und drehen mit Darius Milhauds Streichquartett Nr. 1 das Geschehen ins Dramatische. Worte und Musik finden mehr und mehr zusammen. Mit dem Impromptu opus 5, Nr. 5 und 6 von Jean Sibelius zieht das Ensemble die Hörer endgültig in einen Sog, der das Leben auf dem Platz in seinen Bann zieht. Allein die Kinder bleiben unbeeindruckt und setzen ihr lebhaftes Spiel fort. Allmählich entzieht sich der Platz jeder Wirklichkeit. In ihrem Zusammenspiel finden Farnbacher und das Ensemble Ruhr zu einem eigenen Atem, der den Platz beherrscht. Keiner stellt mehr die Frage, wie viele Zuschauer dem Konzert lauschen. Sondern Publikum, Poetin und Musiker verschmelzen. Das muss man mal erlebt haben.

Vorerst bleibt es dabei. Erst im kommenden Jahr wird das Ensemble in den Flottmannhallen in Herne das Programm erneut aufführen. Aber der heutige Abend wird lange nachhallen. Denn klassische Musik in der vormaligen Bergarbeiter-Gemeinde wirkt zunächst exotisch. Dass sie die Herzen berührt, hat das Ensemble Ruhr bewiesen. Und wenn als Zugabe das Steigerlied im eigenen Streicher-Arrangement erklingt, können die Besucher mit der ursprünglichen Bedeutung offenkundig nichts mehr anfangen. Aber immer noch greift es auch in der instrumentalen Fassung an die Herzen. Es kommt nicht darauf an, wo oder vor wie vielen Leuten Musik erklingt. Wenn sie, wie am heutigen Abend, Menschen erreicht, denen sie eigentlich fremd ist, darf man von einem wunderbaren Erfolg sprechen.

Michael S. Zerban