Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
ON AIR – ENSEMBLE MODERN LIVE AUS DEM DACHSAAL
(Diverse Komponisten)
Gesehen am
9. April 2020
(Livestream)
Allmählich scheinen die Künstler aus ihrer Schockstarre zu erwachen und sich auf das Internet einzuschießen. Zumindest nehmen die Hinweise auf neugegründete Konzertreihen im Netz zu. Eine davon ist die des Ensemble Modern aus Frankfurt.
Das Ensemble Modern wurde 1980 gegründet und hat sich in den vergangenen Jahren zu einem der führenden Ensembles für Neue Musik entwickelt. Etwa 20 Solisten aus neun Nationen arbeiten basisdemokratisch in den Bereichen Musiktheater, Tanz- und Videoprojekte, Kammermusik, Ensemble- und Orchesterkonzerte. Nach eigenen Angaben werden durchschnittlich 70 Werke pro Jahr neu erarbeitet, darunter etwa 20 Uraufführungen. Eigentlich war zum 40-jährigen Bestehen ein ganzjähriges Programm geplant, das nun erst einmal hinfällig ist. Ein Blick auf die Website zeigt, dass die Musiker sehr rege im Internet unterwegs sind.
Jetzt also startet die neue Konzertreihe On Air – Ensemble Modern live aus dem Dachsaal, die zunächst live gestreamt wird, später dann aber auch als Video on demand zur Verfügung steht. Jeweils donnerstags und montags ist ein neues Konzert vorgesehen, das um 20.30 Uhr beginnt und auf der eigenen Website, bei Facebook und YouTube – hier mit der Möglichkeit des Live-Chats – gezeigt wird.
Den Anfang macht Jaan Bossier. Der Klarinettist studierte am Koninklijk Vlaams Muziekconservatorium in Antwerpen. Als Mitglied beim Ensemble Modern ist er auch als Lehrbeauftragter an dessen Akademie tätig. Jetzt steht er im Probensaal des Ensembles hinter einem Notenständer und wirkt tatsächlich ein wenig nervös. Viele Musiker berichten in diesen Tagen davon, wie schwierig es ist, ohne Publikum aufzutreten. Offenbar steigert die Kamera das Unwohlsein noch einmal. Das Ensemble bemüht sich um ein hohes Maß an Professionalität. Dementsprechend sind jetzt auch zwei Kameras auf den Musiker gerichtet. Neben der Totalen werden so auch Nah- und Zoomaufnahmen möglich. Bei letzterem bedarf es aber noch der Übung. Bossier konzentriert sich leider nur auf die Kamera in der Totalen, so dass die Wirkung der individuellen Kamera bei seinen kurzen Moderationen verpufft. Aber das sind Kleinigkeiten, die bei den kommenden Konzerten sicher noch Verbesserung erfahren. Dann wird man sich sicher auch noch mal kritisch mit der Beleuchtung auseinandersetzen – da gibt es ja auch durchaus mehr Möglichkeiten als Putzlicht.
Bildschirmfoto
Es ist eindrucksvoll zu sehen, wie bei Bossier in dem Moment, in dem er das Instrument zum Mund führt, jegliche Nervosität vollständig abfällt. Drei Werke hat er für diesen Abend vorbereitet, die den Zeitraum von 1933 bis 2017 umfasst. Ein Stück von Olivier Messiaen gibt es zum Auftakt. Es ist der dritte Satz aus dem Quartett auf das Ende der Zeit aus dem Jahr 1941, entstanden also inmitten der Kriegswirren. Abîme des oiseaux – Abgrund der Vögel hat er diesen Satz genannt. Ein Wechselspiel aus Glauben und Hoffnung kann man darin erkennen. Lange Bögen wechseln mit kurzen, spitzen Klängen und geben so das beinahe schon mystische Bild fast naturalistisch näher. Mit einer Dauer von etwa fünf Minuten dient es eher als Aufwärmtraining für das kommende Stück, das den Hauptteil des Abends ausmacht.
2017 hat Mark Andre sein Stück Atemwind für Klarinette solo komponiert. Der Franzose, der heute in Berlin lebt, wurde drei Jahre zuvor einem breiteren Publikum bekannt, als Jossi Wieler und Sergio Morabito seine Oper Wunderzaichen in Stuttgart erstmals auf die Bühne brachten. In Atemwind geht es Andre aber eher um die leisen Töne. Zunächst sind nur verschiedene Luftströme in der Klarinette zu hören, dann setzen leise Notenklänge ein, die zwischen spitzen Einwürfen und dumpfen Trillern wechseln. Gutturale Laute wechseln mit Zwitschern. Anschwellende Töne versiegen im Ansatz. Die Anforderungen des Komponisten verlangen dem Spieler einiges ab, aber Bossier beherrscht das souverän. Immer wieder durchbrechen trockene Atemstöße den Notenfluss. Ein echter Fluss entsteht selten, vielmehr reihen sich viele Sequenzen aneinander. Nach etwa 20 Minuten ist das Vorspiel beendet, das Bossier Andre und seiner Familie gewidmet hat, nachdem kürzlich ein Angehöriger Andres im Zusammenhang mit dem Corona-Virus verstarb.
1933 studierte John Cage noch Komposition bei Richard Buhlig, lebte in einem Loft in Santa Monica mit Don Sample zusammen und lernte seine Frau kennen. Und er komponierte seine Sonata for Clarinet, nach Angaben von Bossier das erste von ihm herausgegebene Werk, das Cage auch in späteren Jahren noch gefiel. Auch interpretierenden Musikern gefällt das Werk, denn hier sind ausschließlich Töne notiert. Angaben zur Dynamik, Artikulation oder Phrasierung sucht man vergeblich. Die Interpretation überließ Cage absichtlich dem Musiker. Drei Sätze bringt er in etwa fünf Minuten unter. Auch wenn es im Vivace so klingen mag, spielt hier die Aleatorik, mit der sich Cage später beschäftigte, noch keine Rolle. Im Lento werden die Töne langgezogener, so dass so etwas wie eine dissonante Melodie entsteht. Im letzten Vivace werden die gebundenen Töne deutlich lebhafter, ja, fast schon freudvoll. Und dann ist der gelungene Einstand nach 40 Minuten schon wieder vorbei.
Bossier verabschiedet sich, nicht ohne auf das nächste Konzert hinzuweisen. Am 13. April werden Jagdish Mistry und Giorgos Panagiotidis als Geigenduo auftreten.
Michael S. Zerban