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WOYZECK – EINE ENTSCHEIDUNG
(Georg Büchner)
Besuch am
8. Februar 2025
(Premiere)
1780 wurde Johann Christian Woyzeck in Leipzig als Sohn armer Leute geboren. Seine Eltern starben in seiner Kindheit. Er wurde Perückenmacher, zog viele Jahre auf Arbeitssuche umher, schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten und Bettelei durch. Als Soldat nahm er an den Napoleonischen Kriegen teil, wurde 1818 völlig mittellos aus dem Kriegsdienst entlassen. Möglicherweise war er da schon psychisch geschädigt. Zurück in Leipzig kam er wegen Diebstahls ins Gefängnis. Seine Beziehung zur Witwe Johanna Christiane Woost war von Eifersucht geprägt. 1821 erstach er sie. Der Versuch, ihn als unzurechnungsfähig erklären zu lassen, schlug fehl. Er wurde zum Tode verurteilt und am 27. August 1824 im Beisein von 5.000 Schaulustigen mitten in Leipzig hingerichtet.
Georg Büchner wurde 1813 in Goddelau geboren und gerade mal 23 Jahre alt. 1836 begann er die Arbeit an dem Drama Woyzeck. Es blieb ein Fragment, als er im Folgejahr in Zürich an Typhus verstarb. Welch ein Werk. Es entwickelte sich zu einem der meistaufgeführten Stücke, nachdem es 1879 veröffentlicht und 1913 am Residenztheater in München uraufgeführt wurde. Ob Oper, Theater, Film oder Schullektüre: Es gibt kaum eine Form, in der das Drama nicht bearbeitet wurde. Bis zum Ende der Spielzeit 1999/2000 sind 420 Inszenierungen nachgewiesen. Und bis heute sieht nichts danach aus, als sei der Stoff erschöpft. Die Geschichte vom Mann, der aus der Armut kommt, sein Leben lang herumgeschubst und gedemütigt wird, schließlich als einzige eigene Entscheidung seine Marie tötet, ist aktuell wie zur Entstehungszeit.
Foto © Michael Zerban
Beim Sommerfestival des Rabbit-Hole-Theaters am Viehoferplatz in Essen im vergangenen Jahr führten Patricia Foik und Carsten Caniglia eine work-in-progress-Version ihrer Interpretation auf. Seit ihrem Schauspielstudium spukte ihnen im Kopf herum, den Woyzeck in ihrer Lesart aufzuführen. Dominik Hertrich, Christian Freund und Jens Dornheim als Betreiber des kleinen Theaters ermöglichten ihnen eine eigene Produktion. Schon mit der Vorab-Version konnten die beiden Schauspieler das Publikum nachhaltig beeindrucken. Von da an wurde in der Küche und im Wohnzimmer weiterentwickelt und geprobt. Requisiten wie Baustrahler als Beleuchtungskörper und Folien oder Klebeband wurden im Baumarkt erworben. Die Idee, eine Aufführung zu verwirklichen, die unabhängig von der Bühnenausstattung funktioniert, nahm Gestalt an.
Jetzt also erfolgt „endlich“ die Premiere. Wie es sich gehört, haben sich viele Freunde, Bekannte und auch Familienangehörige im Zuschauerraum versammelt. Im Büchnerschen Fragment sind mindestens 30 Personen auf der Bühne vorgesehen. Eine Nacherzählung des Stoffs kommt also nicht ansatzweise in Frage, steht aber für die beiden auch nicht ernsthaft zur Diskussion. Foik und Caniglia wollen mit Charisma und Ausdruck überzeugen. Die Bühne ist ganz in Schwarz ausgeschlagen, das Licht kommt von den Baustrahlern, die man an- oder ausschalten kann. Eine Projektion wird das Spiel als Intermezzo bereichern. Die Einspielungen von Geräuschen, Lachen oder Musikfragmenten, die an Hans Kulk, Hauschka und Martin Herzberg erinnern, werden über das Mobiltelefon gesteuert. Zwei Stühle, eine Münze, eine Folie vervollständigen die Ausstattung. Viel weniger geht wirklich nicht. Die beiden Schauspieler sind also auf sich selbst zurückgeworfen, um das Publikum zu fesseln.
Foto © Michael Zerban
Woyzeck ist der Getriebene, der Entscheidungen anderen überlässt. Mittels Münzwurfs unterwirft er sich dem Schicksal und denjenigen, die ihn demütigen, indem sie ihm Erbsbreidiäten verordnen, Handlanger-Aktivitäten verlangen, um sich derweil um Marie zu kümmern. Verzweiflung überkommt ihn, als er im Gefängnis – Klebeband auf schwarzem Boden – seine Münze verliert. So entsteht von der ersten Sekunde an eine Intensität, der sich der Zuschauer kaum mehr entziehen kann. Foik übernimmt derweil die Rollen des Tambourmajors oder der Marie, changiert beständig zwischen den Charakteren, lässt dabei selten Brüche erkennen. Da hilft es, wenn man wenigstens in Grundzügen seinen Woyzeck kennt. Was sich dem Zuschauer nicht erschließen kann: Weite Teile des Schauspiels sind improvisiert. Aus dem großen Baukasten ihrer Möglichkeiten schöpfen die beiden innerhalb der Rahmenhandlung Elemente, die expressiv, dramaturgisch geschickt und spannungssteigernd in die eruptiv rasante Entwicklung eingebaut werden.
Zunehmend verwischen die Erniedrigungen von Tambourmajor und Marie auf einer Realitätsebene, die sich dem geistigen Fassungsvermögen Woyzecks entzieht. Der kleine Kunstgriff, Woyzeck in den Krieg ziehen zu lassen, was dem historischen Vorbild, nicht aber dem Drama entnommen ist, verleiht zusätzliche Würze. Und dann ist Marie tot. Spätestens bei ihrer Waschung und dem Einschlagen in Folie stellt sich im Publikum allmählich Atemlosigkeit ein.
Nach einer guten Dreiviertelstunde ist die ganze Bandbreite von Emotionen gezeigt, Foik und Caniglia haben sich vollkommen verausgabt, das Publikum ist hingerissen. Zu Recht.
Michael S. Zerban