O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Wenn sich der Regenschirm öffnet

TRIFF
(Diverse Komponisten)

Besuch am
2. Dezember 2022
(Probe)

 

Gruppe Moment und Drei-Orangen-Kollektiv, Essen

Anfang Oktober präsentierte das Drei-Orangen-Kollektiv, ein Ensemble aus dem Stuttgarter Raum, das sich auf die Fahnen geschrieben hat, verschiedene Kunstformen wie Musik, Tanz, Video und Sprache miteinander verschmelzen zu lassen, sein neuestes Projekt in Esslingen. Bewusst formal nicht festgeschrieben, beschäftigt Hugo sich mit dem Heldentum. Da werden Rahmenbedingungen festgelegt, die von Spielort zu Spielort variieren können. Nur die Heldengeschichten im Video bleiben gleich. Da werden Gummistiefelweitwurfmeister, Burgerwettesser oder Helden der Lego-Steine gezeigt. Es wird schnell klar, dass das eigentlich nicht so die Helden sind, die man sich vorstellt. Seit Urzeiten beschäftigen Menschen sich mit der Frage, was Helden sind, ob es Helden gibt und wie sie beschaffen sein sollen. Hugo kommt in Kombination von Video und Musik zu dem Ergebnis, dass wir alle Helden sind. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es keine Helden gibt. Aber darauf will das Stück nicht hinaus.

Neus Estarella Calderòn und Daniela Petry – Foto © O-Ton

Mit in Esslingen dabei ist die Kontrabassistin Daniela Petry. Und sie entscheidet nach dem damals noch im work-in-progress befindlichen Werk: Das muss in Essen gezeigt werden. Denn dort gibt es ihr Ensemble Gruppe Moment. Und einen Spielort, von dem sich die Musikerin vorstellen kann, dass Hugo dort funktionieren kann. Allerdings nicht als Hugo, sondern als Triff. Die Spielstätte liegt gleich neben dem AmVieh-Theater am Viehoferplatz in Essen. Ein ehemaliger Supermarkt, eher noch kleiner als das AmVieh-Theater, nennt sich jetzt Neue Musik Zentrale Essen. Dort hat Regisseur Chris Grammel das Stück eingerichtet. Die Videoprojektionen von Philipp Kaiser sollen nahezu eine 360°-Sicht ermöglichen. Für die Musiker sind verschiedene Positionen vorgesehen, an denen sie sich mit dem Publikum vermischen. Eine besondere Rolle spielen fünfzehn weiße Regenschirme, die bis auf einen an das Publikum verteilt werden und eine zusätzliche Projektionsfläche bieten. Das alles klingt schon recht ambitioniert. Aber bis dahin steht noch eine letzte Probe an. Keine Generalprobe, sondern eine letzte Probe, die die Zeit vor der Aufführung noch erlaubt.

In diesem Fall führt die Probe in einen Raum, der anspruchsloser kaum sein könnte. Ein überdachter Hinterhof, in dem sich jetzt Instrumententaschen stapeln. Notenständer und Stühle sind so angeordnet, wie sie so ähnlich am Tag des Konzerts in etwa stehen könnten. Immerhin gibt es einen alten Flügel. Was die Raumtemperatur anbelangt, braucht hier niemand Angst zu haben, ins Schwitzen zu geraten. Der Zeitplan ist längst zunichte. Dafür sorgt schon die Deutsche Bahn mit ihren legendären Verspätungen. Als letzte trifft Neus Estarella Calderòn ein. Für die letzte Etappe musste sie dann doch noch ins Taxi springen. Glücklicherweise kennt sie ihre Aufgaben an Flügel, Toy Piano und Melodica im Wesentlichen aus Stuttgart. Ebenso wie Posaunist Tilman Schaal, der die Zeit gern noch nutzt, um von den Publikumsreaktionen in Esslingen zu berichten. 15 Aufführungen hat er bereits hinter sich und jedes Mal wieder Spaß an den Überraschungsmomenten, die das Konzert bietet. Jetzt versucht er, gemeinsam mit Yannick Hettich, der mit seiner Bratsche aus Hannover angereist ist, geeignete Plastikflaschen als Instrumente zu finden. Da wird geknistert und geknattert, bis endlich der zufriedenstellende Ton gefunden ist. Währenddessen arbeitet Jaime Moraga Vasquez, der an sich für das Schlagwerk zuständig ist, daran, einer Bierflasche Töne zu entlocken. Mit großer asiatischer Gelassenheit beobachtet Yiyong Zhao von seinem Cello aus das Geschehen. Er hat schließlich „nur“ sein Instrument zu bedienen.

Francesco Matejcek – Foto © O-Ton

Die musikalische Leitung übernimmt Daniela Petry am Kontrabass. Bevor es richtig losgehen kann, muss die Pianistin noch in ihr neues „Zusatzinstrument“ eingewiesen werden. Eine Parkscheibe, was sonst? Schließlich ist in der Partitur so etwas wie ein Kamm eingezeichnet, der über eine Kante am Flügel gestrichen werden muss. Das will ein wenig geübt sein, soll das Klavier nicht anschließend restaurierungsbedürftig aussehen. Und dann beginnt der erste vollständige Durchlauf von Clair de lune au bosco, einem Arrangement frei nach Mikel Urquiza aus dem Jahr 2015. Da sind dann auch Phoebe Bognár an der Flöte und Florian Bergmann mit der Bassklarinette ganz Feuer und Flamme. Das Stück beinhaltet auch den Auftritt des Conférenciers, den Francesco Matejcek übernimmt. Vier Kostüme hat er mitgebracht, damit es ein wenig Auswahl gibt. Ihm fällt die Aufgabe zu, das Stück zu beenden. Dazu tritt er mit einem der weißen Regenschirme in die Mitte, am erhobenen Arm zählen die Finger bis drei, dann klappt der Schirm auf.

Nicht-öffentliche Proben sind der geschützte Raum der Musiker. Hier ist noch so ziemlich alles erlaubt. Stücke werden nicht geübt, sondern ausprobiert. Stimmen die Tempi, fühlen die Musiker sich mit dem Spielfluss wohl? Ideen werden laut, werden aufgezeichnet oder verworfen. Kritik ist nicht angebracht und wenn jedenfalls sehr zurückhaltend. Schließlich beherrscht hier jeder sein Metier auf das Beste. Da kann es nur noch darum gehen, die Interpretation des einzelnen Stücks zu verfeinern. Und da hilft in erster Linie gute Laune. Auf diese Weise kann sich die Magie der Vorfreude auf den eigentlichen Konzertabend im Raum verbreiten. Dass der eine oder andere gegen halb elf Anzeichen von Müdigkeit zeigt, liegt nicht an der fehlenden Kondition, sondern daran, dass die Musiker einen langen Arbeitstag mit Anreise hinter sich haben, an dessen Abend noch einmal höchste Konzentration verlangt wird. Am darauffolgenden Tag werden sie neben ausgiebigen Improvisationen noch Sarah Nemtsovs Kammer aus dem Jahr 2020 und einen Ausschnitt aus Brian Ferneyhoughs Trittico per G. S. von 1989 zum Besten geben.

Während die meisten Musiker erschöpft, aber doch ziemlich glücklich, ihre Taschen packen, die Instrumente und Notenständer verstauen, letzte Kleiderfragen für den bevorstehenden Auftritt klären, bleiben Petry, Schaal, Calderòn und Bergmann zurück, um sich dem Ausschnitt aus Morton Feldmans Music for Voice and Instruments Pt. II aus dem Jahr 1974 zu widmen, den sie für das Konzert ausgewählt haben. Dass die Sängerin erkrankt ist, ist bedauerlich, aber auch dafür wird sich bis zum nächsten Abend noch eine Lösung finden. Wie immer. Es wird noch spät in dieser Nacht. Und es wird nichts fertig sein. Auch das eigentlich wie immer. Aber vielleicht hilft gerade das, die Spannung aufrechtzuerhalten, um dem Publikum einen aufregenden Abend zu ermöglichen, der ein wenig länger als üblich in der Erinnerung haften bleibt, wenn auch am Ende – vielleicht – ganz ohne Helden.

Michael S. Zerban