O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Von Angesicht zu Angesicht

SPEAKING DRUMS
(Diverse Komponisten)

Besuch am
2. März 2024
(Einmalige Aufführung)

 

Theater und Philharmonie Essen, Alfried-Krupp-Saal

Das Schlagzeug ist das klassische Instrument des 21. Jahrhunderts. Kaum ein aktuelles musiktheatralisches Werk, das ohne Schlagwerk auskommt. Dabei gibt es „das“ Schlagzeug überhaupt nicht. Was ein echter Perkussionist ist, sieht alles, auf das man schlagen kann, als Instrument. Vivi Vassileva ist ein gutes Beispiel dafür. Zumindest, wenn man heute Abend auf die Bühne des Alfried-Krupp-Saals in der Philharmonie Essen schaut. Demnach reist sie mindestens mit einem Sattelschlepper von Konzert zu Konzert. Pauken, Marimba- und Vibrafon, große Trommeln, Becken, Klangschalen sind nur einige wenige Beispiele für die Instrumente, die auf der Bühne in Stationen aufgebaut sind.

Jetzt steht dort zusätzlich noch ein Flügel, denn Vassileva ist nicht allein nach Essen gekommen. An ihrer Seite spielt Frank Dupree, Pianist mit besonderen Zusatzfähigkeiten, wie sich später zeigen wird. Die beiden haben während der Pandemie beschlossen, als Duo aufzutreten, und gemeinsam ein Programm entwickelt, das sie nun in Essen vorstellen wollen. Vassileva gehört inzwischen zu den erfolgreichsten Schlagzeugern der Gegenwart. Da kann selbst ihre formale Ausbildung nicht Schritt halten. Während sie von Konzert zu Konzert eilt, absolvierte die junge Frau bis zum vergangenen Jahr noch ihr Master-Studium bei Martin Grubinger am Mozarteum in Salzburg. Da fragt man sich, ob die Musikhochschulen eigentlich überdurchschnittlichen Musikern überhaupt gerecht werden können. Vassileva kann das egal sein. Mit Dupree hat sie einen Pianisten kennengelernt, der in seiner Jugend ebenfalls Schlagzeug gelernt hat. Er wird als einer der „vielseitigsten Pianisten und Dirigenten der jungen Generation“ beschrieben.

Das klingt vielversprechend. Umso erstaunlicher, dass die beiden im Alfried-Krupp-Saal vor fast leerem Haus auftreten. Da ist ja wohl was gründlich schiefgelaufen. Zumal sich die Konzerte von Ausnahme-Schlagzeugern wie Martin Grubinger oder eben Vivi Vassileva eigentlich beim Publikum größter Beliebtheit erfreuen, auch wenn die Musiker Werke der Gegenwart auf ihre Programmzettel schreiben.

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Plötzlich vibriert der Saal vor Energie. Im Laufschritt betritt Vassileva im enganliegenden, roten, ärmellosen Kleid das Podium, dicht gefolgt von Dupree im braunen Anzug. Konventionen werden also eher eine untergeordnete Rolle spielen. Und wer über solch muskulöse Oberarme wie Vassileva verfügt, wird sie vollkommen zurecht gern herzeigen. Mit entsprechender Verve geht es gleich im ersten Stück zur Sache. 2007 komponierte Thierry Deleruyelle, der eigentlich bevorzugt Stücke für Bläser schreibt, Face à Face, für das er 2010 unter anderem eine Fassung für Klavier und Vibrafon entwickelte. Genussvoll lassen sich die beiden Musiker auf das durchaus lebhafte Stück mit Jazz-Einsprengseln ein, das einiges an Virtuosität abverlangt. Da ist ein erstes Feuerwerk schon nach wenigen Minuten gezündet.

Mit Halo von John Psathas kommt schon früh ein sehr ruhiges Stück zum Tragen. Ursprünglich 2016 für Cello und Klavier geschrieben, gibt es eine spätere Fassung für Marimbafon und Klavier. Vassileva denkt dabei, wie sie verrät, an Yoga-Musik und liegt damit nicht ganz falsch. Wer auf artistische Einlagen am Schlagwerk hofft, wird erst mal ein wenig enttäuscht. Was zu dem Zeitpunkt vermutlich keiner ahnt, ist, dass es die Ruhe vor dem Sturm ist, die hier genüsslich vorgetragen wird. Dann folgt das outing von Dupree, der verrät, dass er sich als Jugendlicher „auch mal am Schlagzeug versucht“ habe. Er legt sein Sakko ab und begibt sich mit Vassileva zu einer Schlagwerkstation im Hintergrund der Bühne. Denn was jetzt kommt, dürfte wohl beide Musiker an die Grenzen ihrer Kondition treiben. Sie stehen sich nun tatsächlich gegenüber, um das achtminütige Face 2 Face des chinesischen Komponisten Liu Heng aus dem Jahr 2016 vorzutragen. Dabei teilen sie sich fünf Trommeln, jeder hat zusätzlich ein Becken zur Verfügung. Damit lässt sich vortrefflich debattieren, argumentieren und streiten. Das ist schon visuell ein Vergnügen, vom Klang ganz zu schweigen.

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Ein ganz anderes Schmunzeln ruft das Stück Speaking Drums von Peter Eötvös aus dem Jahr 2013 hervor. Ursprünglich als Vertonung von vier Gedichten in einem Schlagzeugkonzert konzipiert, ersetzen Vassileva und Dupree das Orchester kurzerhand durch das Klavier. Die Perkussionistin übernimmt nicht nur die unterschiedlichsten Schlagzeug-Stationen, sondern auch die Stimme in einer Fantasiesprache. Dupree unterstützt sie nicht nur am Flügel, sondern nebenbei auch noch an großer Trommel und Becken. Ein Anblick, den man nicht jeden Tag erlebt. Mit dem Tango Jalousie – der „Eifersuchtstango“ entstand 1925 – von Jacob Gade geht es dann wieder in bekanntere Hörgewohnheiten zurück. Nach Afro Blue von Mongo Santamaria, ein kubanisch inspiriertes Stück, und Holiday Blessings von Aziza Mustafa Zadeh gibt es zum Abschluss noch einen echten Klassiker.

Aus dem Jahr 1971 stammt die legendäre Aufnahme von Spain von Chick Corea. Und Dupree hat vollkommen Recht, wenn er davon ausgeht, dass das Publikum sich auf das Original-Arrangement freut. Allerdings haben Vassileva und er sich dagegen und für eine eigene Interpretation entschieden. Auch schön.

Das Publikum ist hellauf begeistert und lässt sich gern noch die Zugabe über ein Glückskind gefallen. Wo es doch an diesem Abend eindeutig gleich zwei Glückskinder erlebt hat. Wer sich im Nachgang noch ein bisschen mit der Musik Vassilevas auseinandersetzen möchte, um zu verstehen, warum sie allerorten so gefeiert wird, dem sei ihr Debüt-Album Singin‘ Rhythm ans Herz gelegt.

Michael S. Zerban