O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Schlagzeug, Held der Klassik

SCHLAGZEUGMARATHON
(Diverse Komponisten)

Besuch am
26. August 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Ruhrtriennale, PACT Zollverein Essen

Seit Menschengedenken spielt der Rhythmus eine große Rolle. Demnach zählt das Schlagwerk mit zum ersten Instrumentarium, das mannigfaltig eingesetzt wurde. Erste Instrumente waren wahrscheinlich Knüppel, die gegeneinander geschlagen wurden. Auch die Trommel ist uralt. Als Rhythmus-, Effekt und Signalinstrument war sie von Anfang an wichtig. Genauso unerlässlich war und ist sie bei vielen religiösen Zeremonien. Militärmusik kann man sich ohne sie nicht vorstellen. Heute gibt es unzählige Schlaginstrumente, die in der Musik Einzug gehalten haben. Ein Ende an Einbeziehung von weiteren Gegenständen, die geschlagen Klänge oder Geräusche erzeugen, ist nicht in Sicht. Dieser Instrumentengattung ist im Rahmen der Ruhrtriennale ein über zwölfstündiger Schlagzeugmarathon gewidmet, der im Essener Pact Zollverein deren musikalische Entwicklung seit den 1930-er Jahren exemplarisch aufzeigt.

Für jeden Rhythmusfreund ist etwas dabei: Etwa bietet draußen Schlagzeuger und Komponist Peter Eisold eine Klangperformance, indem er Klangskulpturen von Thomas Rother in Schwingungen versetzt. Eine weitere künstlerische Aktion bietet Julian Sartorius drinnen. Vom Foyer, raus in den Gang, die Treppe hoch bis in den Saal mit der großen Bühne schlägt er mit Schlagzeugstöcken auf Wände, Rohre, Geländer oder Tische und Stühle und erkundet so geräuschvoll-rhythmisch das Gebäude. Auftritte weiterer Künstler solistisch, im Duo oder Trio bieten ein breites Spektrum an Improvisationen und fest notierten Programmpunkten. Auch der US-amerikanische Drummer Billy Cobham, der seit rund 50 Jahren maßgeblich mit an der Entwicklung des Jazz beteiligt ist, gibt zu vorgerückter Stunde ein Solo-Gastspiel.

Selbstredend kommt die Klassik nicht zu kurz. Auf diesem Gebiet fristeten lange die Rhythmusinstrumente ein stiefmütterliches Dasein. Geläufig waren hauptsächlich in Orchestern Pauken, große und kleine Trommel, Becken und Triangel. Sie wurden in der Regel für rhythmische Betonungen und Akzente verwendet, nahmen also eine Nebenrolle ein. Erst um die Wende vom 19. zum 20 Jahrhundert nahm die Bedeutung des Schlagzeugs zu. Weiteres Instrumentarium hielt Einzug. In der Kammermusik kam das Schlagwerk überhaupt nicht vor. Anno 1937 schlug Béla Bartók ein neues Kapitel auf, als er in seiner Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug beide Instrumentengattungen rhythmisch und melodisch gleichwertig behandelte. Auch hinsichtlich Dynamik, Expressivität, Polyphonie und Umsetzung der vertrackten polyrhythmischen Strukturen sind sie auf Augenhöhe. Der formale Aufbau des dreisätzigen Werks ist traditionell. Der Anfangssatz ist nach einer langsamen Einleitung sonatenförmig angelegt. Ruhig-langsam ist der liedförmige Mittelsatz, in dem dem ungarischen Komponisten traumhaft schöne zart-atmosphärische Klänge gelungen sind. Das Finale ist ein Sonatenrondo und erfüllt von unbändiger, tänzerischer Lebensfreude.

Die Pianisten Virginie Déjos und Matthieu Cognet sowie die Schlagzeuger Dirk Rothbrust und Brian Archinal spielen das wegweisende Werk wie aus einem Guss mit einer Akkuratesse, die keine Wünsche offen lässt. Das Quartett brilliert mit großen, packenden musikalischen Spannungsbögen. Trotz der rhythmischen Komplexität und vielschichtigen Polyphonie gelingen ausnahmslos alle Einsätze, Übergänge oder Tempoänderungen perfekt. Stets differenziert und durchsichtig ist das Klangbild.

Dirk Rothbrust – Foto © O-Ton

19 Jahre später schlug Karlheinz Stockhausen mit dem Werk Klavierstück XI einen neuen Weg ein, das in offener Form komponiert ist. Schnell war die Aleatorik als Kompositionsform in aller Munde. Diesen Namen verwendeten er und Pierre Boulez zuerst 1957 bei den Darmstädter Ferienkursen. Zwei Jahre später schrieb er den Zyklus No. 9 für Schlagzeug solo in diesem Stil. Das Werk besteht aus 19 fest notierten Abschnitten. Auch Tempi, Dynamiken und Anschlagsarten sind angegeben. Stockhausen gibt dazu Erklärungen und Anweisungen, wie sie zu spielen sind: „Der Spieler schaut absichtslos auf den Papierbogen und beginnt mit irgendeiner zuerst gesehenen Gruppe; diese spielt er mit beliebiger Geschwindigkeit (die klein gedruckten Noten immer ausgenommen), Grundlautstärke und Anschlagsform. Ist die erste Gruppe zu Ende, so liest er die folgenden Spielbezeichnungen für Geschwindigkeit, Grundlautstärke und Anschlagsform, schaut absichtslos weiter zu irgendeiner anderen Gruppe und spielt diese, den drei Bezeichnungen gemäß. Mit der Bezeichnung „absichtslos von Gruppe zu Gruppe weiterschauen” ist gemeint, dass der Spieler niemals bestimmte Gruppen miteinander verbinden oder einzelne auslassen will. Jede Gruppe ist mit jeder der 18 anderen Gruppen verknüpfbar, so dass also auch jede Gruppe mit jeder der sechs Geschwindigkeiten, Grundlautstärken und Anschlagsformen gespielt werden kann. (…) Wird eine Gruppe zum zweiten Mal erreicht, so gelten eingeklammerte Bezeichnungen; meist sind es Transpositionen um eine oder zwei Oktaven aufwärts oder abwärts, es werden Töne hinzugefügt oder weggelassen. Wird eine Gruppe zum dritten Mal erreicht, so ist eine der möglichen Realisationen des Stückes zu Ende. Dabei kann sich ergeben, dass einige Gruppen nur einmal oder noch gar nicht gespielt wurden.”

Stockhausen hat weitere Regeln zu Papier gebracht: „Der Spieler steht in einem Kreis von Schlaginstrumenten und dreht sich während der Aufführung (…) einmal im Kreis, links oder rechts herum je nach Leserichtung. (…) Eine Interpretation kann mit irgendeiner Seite beginnen, sie soll dann alle Seiten ohne Unterbrechung in der gegebenen Reihenfolge umfassen und mit dem ersten Schlag der Anfangsseite enden. (…) Von mehreren Notensystemen in Klammern ist nur eines auszuwählen; Gruppen und/oder Punkte im Dreieck sind vertauschbar, müssen aber an den im gemessenen Zeitablauf angegebenen Stellen beginnen. Gruppen und/oder Punkte im Rechteck sind vertauschbar und können an beliebiger Stelle innerhalb des Rechtecks in den gemessenen Zeitabstand eingegliedert werden. (…) In den Strukturen 1, 3, 4, 5, 7, 8 sind immer alle Elemente zu spielen. In allen 8 Strukturen soll kein Element wiederholt werden…”

Das Stück befindet sich also in einem Spannungsfeld zwischen fixierten und variablen Kategorien. Die Stücke sind bezüglich ihrer Tonhöhen eindeutig notiert. Der Komponist stellt dem Interpreten aber Materialien und Regeln zur Verfügung, mit denen er in begrenztem Maß Entscheidungen über die letztendliche Ausgestaltung der Partitur treffen kann. Er überträgt manche Entscheidungen auf den Interpreten innerhalb klar kontrollierter Rahmenbedingungen und übergeordneter Strukturen. Anders ausgedrückt: Vorgaben des Komponisten werden zur weiteren Verarbeitung an einen anderen Komponisten weitergeleitet.

Tief ausgelotet bringt Dirk Rothbrust Stockhausens Niederschrift zu Gehör und geht äußerst flüssig-variabel mit den individuellen Freiräumen um. So entsteht der beabsichtigte Eindruck, als handelte es sich bei Zyklus No. 9 vom ersten bis zum letzten Klang um ein stringent ein allen Facetten durchkomponiertes Werk handeln.

Ob sich Stockhausen vom Stil des US-amerikanischen Komponisten Morton Feldman, der als Wegbereiter der grafischen Notation gilt und auf diese Weise die Art der Partitur-Ausführung den Musikern überlässt, hat inspirieren lassen, ist zwar umstritten, doch nicht ganz von der Hand zu weisen. Dem Interpreten hat das Mitglied Komponistengruppe um John Cage in dem anno 1964 geschaffenen The King of Denmark für Schlagzeug solo aber andere Gestaltungsmöglichkeiten überlassen als sein Kollege aus Deutschland. In einem Gitter-Schlagzeug-Notensystem ist der Ablauf präzise notiert mit der Anweisung, dass alles so leise wie möglich gespielt werden muss. Deshalb dürfen die Instrumente, die der Interpret frei wählen kann, nur mit den Händen angeschlagen werden. Auch wie viele Töne pro Schlag gespielt werden sollen und ob sie in hohen, mittleren oder tiefen Registern erklingen sollen, ist festgelegt. Demnach können, wenn etwa eine kleine Glocke wie aus der Nähe und ein großer Gong wie aus der Ferne wahrgenommen werden, obwohl sie nahe beieinander postiert sind, akustische Täuschungen entstehen. Solche Illusionen rühren von Feldmans Liebe zu den pulsierenden, aber rhythmisch richtungslosen Leinwänden des US-amerikanischen Malers Mark Rothko und anderen amerikanischen abstrakten Expressionisten. Richtungslosigkeit ist hier der Schlüssel.

Auch zu dieser Kompositionsform zeigt Dirk Rothbrust einen großen Zugang. Er kreiert leise, sphärenhafte Klänge, die den ganzen Saal einnehmen, wo es mucksmäuschenstill ist. Denn ihm gelingt es vortrefflich, solch große Spannungen zu erzeugen, dass sie das Publikum in ihren Bann schlagen.

Brian Archinal – Foto © O-Ton

1975 schuf Iannis Xenakis Psappha, ebenfalls ein Stück für einen Perkussionisten. Es steht im starken Kontrast zu Feldmans Werk, da es scharf, knackig daherkommt und sogar gewalttätige Züge annimmt. Die Bezeichnung Psappha ist eine veraltete Form des Namens Sappho. Sie war eine antike griechische Dichterin und lebte auf der Insel Lesbos. In den Dichtungen der bedeutendsten Lyrikerin ihrer Zeit spielt die erotische Liebe eine große Rolle. Geschrieben ist das Opus des Komponisten und Architekten griechischer Herkunft für sechs Instrumentengruppen: drei aus Holz und drei aus Metall. Auch sie sind in einem Gitter-Schlagzeug-Notensystem, das aus fast 2400 Segmenten besteht, fixiert und stellen hohe Anforderungen an den Spieler. Um welches Schlagwerk es sich genau handeln soll, ist nicht festgelegt. Die rhythmischen Strukturen fußen auf kleinen rhythmischen Zellen. Sie durchziehen das gesamte Werk. Die Instrumente können den Gruppen entsprechend vom Interpreten frei gewählt werden. Laut Xenakis müssen sie nur die notierten Vorgaben klar zum Ausdruck bringen.

Wie Rothbrust präsentiert sich auch Brian Archinal als ein versierter, hochvirtuoser Perkussionist, der durchdacht und konsequent mit festem Zugriff die zu Papier gebrachten Absichten und musikalischen Vorstellungen packend zum Erklingen bringt. Knallharte Passagen changieren mustergültig mit eher nachdenklichen Abschnitten. Sogar lange Pausen kann er in den spannungsgeladenen Ablauf integrieren – ein Musterbeispiel dafür, wie Stille mit Musik gleichgesetzt werden kann.

Die zahlreichen neugierigen und aufgeschlossenen Besucher bedanken sich bei den vier Musikern für ihre hochmusikalischen und streckenweise äußerst virtuosen Darbietungen zu Recht mit langanhaltendem Beifall.

Die gegenüber der zeitgenössischen Musik aufgeschlossenen Gäste nähmen bestimmt noch mehr mit nach Hause nehmen als erstklassige Darbietungen, wenn sie zum besseren Verständnis der komplexen Stücke zumindest ein paar Hintergrundinformationen mit an die Hand bekämen. Stattdessen sind auf dem Faltzettel lediglich die Werknamen mit zwei bis drei allgemein gehaltenen Sätzen dazu, Raum und Zeit der jeweiligen Aufführung sowie zur Orientierung ein Lageplan abgedruckt. Auch ist dem Blatt nicht zu entnehmen, welcher der beiden Schlagzeuger welche der drei Solostücke aufführt.

Hartmut Sassenhausen