Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
PORTRÄTKONZERT YORK HÖLLER
(Diverse Komponisten)
Besuch am
15. Juni 2022
(Einmalige Aufführung)
Unter den Liebhabern zeitgenössischer Musik zählt York Höller mit zu den wichtigsten Vertretern Westdeutschlands, die sich ab den 1970-er Jahren von der damals als unumstößlich geltenden seriellen Kompositionstechnik emanzipierten. Manche lehnten sie völlig ab. Andere gingen gnädig damit um und fanden zusätzlich neue Wege, wozu der heute 78-jährige Klangerfinder gezählt werden kann. Bis zu seiner Emeritierung anno 2009 war er als Nachfolger Hans Werner Henzes ab 1995 Professor für Komposition an der Musikhochschule Köln. Außerdem folgte der Träger zahlreicher renommierter Auszeichnungen Karlheinz Stockhausen von 1990 bis 1999 als künstlerischer Leiter des weltberühmten „Studios für Elektronische Musik“ beim Westdeutschen Rundfunk, das nach einem temporären Abbau ein neues Zuhause im Kölner Zentrum für Alte Musik finden wird. Nach der Uraufführung von Höllers Doppelkonzert für Violoncello, Klavier und kleines Orchester in Mülheim an der Ruhr findet zwei Tage später im Haus Fuhr in Essen-Werden im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr ihm zu Ehren ein Porträtkonzert statt.
Präsentiert werden drei Werke aus unterschiedlichen Schaffenszeiten für ein Instrument, das für ihn immer sehr wichtig war und ist: das Klavier. Seine ersten Klavierwerke schmiss er in die Mülltonne. So sind die Fünf Stücke für Klavier aus dem Jahr 1964 sein offizielles Opus 1. Für ihn sind sie das Resultat einer intensiven Beschäftigung mit den Oeuvres von Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg und Bernd Alois Zimmermann. Darin hat er eine Zwölftonreihe, deren Umkehrung, Krebs und Krebsumkehrung verarbeitet. Umkehrung bedeutet das Vertauschen der Richtung der Tonhöhenbewegung, also ein Spiegeln an der Horizontalen. Krebs ist die Spiegelung an der Vertikalachse. Wird dieser Krebs horizontal gespiegelt, lautet der Fachausdruck Krebsumkehrung. Nur verwendete er sie nicht nach Lehrbuch streng, sondern frei. Hier sind etwa Tonwiederholungen und Oktavverdoppelungen kein Tabu. Enthalten sind mannigfaltige Kontraste. Einen verträumten Charakterzug gibt es im zweiten Stück. Die finale Toccata bringt schnelle Tonrepetitionen, die teilweise an Béla Bartóks Allegro barbaro erinnern.
Die im Jahr 2010 geschriebene dritte Sonate und die zwischen 1995 und 2003 entstanden vierzehn Charakterstücke mit dem Titel Monogramme sind Beispiele für seinen reifen Personalstil, dessen zentrales Merkmal die Klanggestalt ist. Diese sind in den beiden Werken überaus mannigfaltig, reichen von in sich gekehrten Momenten bis hin zu eruptiven Ausbrüchen. Vielschichtige, packende, abstrakte Tongemälde entwickeln sich durch einen mannigfaltigen Umgang mit dem ihnen zugrunde liegenden Tonmaterial.
Pianistin Hanni Liang ist nicht zu Unrecht zum fünften Mal Gast des Klavier-Festivals Ruhr. Denn die drei pianistischen höchst anspruchsvollen Werke gestaltet sie bravourös äußerst nuanciert. Tief hat sie die nicht leicht zugänglichen Werke ausgelotet, sodass sie selbst kleinste Motive, Phrasierungen und deren Entwicklungen mustergültig trotz aller Komplexität mit großen musikalischen Spannungsbögen klar zum Ausdruck bringt.
Foto © Christian Palm
Außerdem spielt sie zwei Stücke von Komponisten, die für York Höller wichtig sind beziehungsweise waren. Nuage Gris, auf Deutsch Trübe Wolken von Franz Liszt ist ein ganz kurzes, experimentelles Stück. Basierend auf einen erweiterten Dreiklang ist es Vorreiter einer unabhängigen Klanglichkeit und für die moderne Behandlung von Dissonanzen. Es ist ein Spätwerk, von dem sich viele beeinflussen ließen beziehungsweise lernten. Auch Höller zollte ihm Respekt. Seine zweite Klaviersonate aus dem Jahr 1986 trägt nicht von ungefähr den Zusatz „Hommage à Franz Liszt“, verarbeitete er doch in ihr Material aus den Feux follets aus den Études d’exécution transcendante. Dieses bedeutende kleine Liszt-Stück führt Liang intensiv und dicht auf. Dann gibt es des weiteren Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, der laut Liang für Höller als 12-Jähriger ein Vorbild war. Seine 12. Klaviersonate in F-Dur, KV 332 hat sie sich ausgesucht und bringt sie mit einer dem Werk gebührenden trockenen Tongebung nuanciert, mit festem Zugriff und einem im Finalsatz forschen Tempo einwandfrei fesselnd zu Gehör.
Langanhaltender Applaus ist der Dank für den anspruchsvollen, eindrucksvollen Abend, in dessen Verlauf es Liang sich nicht nehmen lässt, auf Höller zuzugehen und ihn herzlich umarmt. Anschließend verwöhnt sie das Publikum als Zugabe mit dem Andante sostenuto in cis-Moll aus Franz Schuberts Klaviersonate in B-Dur, versehen mit dem Deutschverzeichnis 960.
Solche Porträtkonzerte führen zwar ein Schattendasein bei vielen Konzertveranstaltern, weil sie als elitär gelten und dementsprechend wie an diesem Abend sehr schwach besucht sind. Aber solche meisterhaften, avantgardistischen Werke wie bei dieser Veranstaltung könnten ohne Wenn und Aber viel öfter in Konzertprogrammen auftauchen. Die meisten Klassikfans haben zwar noch Berührungsängste damit. Doch Hörgewohnheiten können sich ändern, wenn man sich regelmäßig mit neuen Klängen auseinandersetzt. Dann wäre es nur eine Frage der Zeit, bis solche Musik genauso überall präsent ist wie zeitgenössische Literatur und bildende Kunst. So würden die meisten Partituren nach der Uraufführung nicht mehr in der Schublade verstauben. Solche Negativbeispiele hat es in der Musikgeschichte etliche gegeben. Etwa verschwand Johann Sebastian Bach nach seinem Tod in der Versenkung, bis Felix Mendelssohn Bartholdy ihn wieder an das Licht der Öffentlichkeit brachte. Oder Gustav Mahler wurde erst durch das große Engagement Leonard Bernsteins populär. Soll es gegenwärtigen Meistern der hohen Kompositionskunst ähnlich ergehen?
Hartmut Sassenhausen