O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Peter Wieler

Aktuelle Aufführungen

Jugendlicher Charme und abgeklärte Reife

KLAVIER-FESTIVAL RUHR 2021
(Diverse Komponisten)

Besuch am
3. und 5. September 2021
(Einmalige Aufführungen)

 

Klavier-Festival Ruhr, Mülheim an der Ruhr, Essen

Sie gehören gewiss zu den interessantesten und charmantesten Entdeckungen des Klavier-Festivals Ruhr. Lucas & Arthur Jussen, das niederländische Klavier-Duo, gibt in der Mülheimer Stadthalle den Startschuss zu einem herbstlichen Nachschlag des Festivals, für den Intendant Franz-Xaver Ohnesorg 30 Konzerte angesetzt hat. Das junge Brüder-Paar, das das Publikum seit seinem ersten Auftritt vor drei Jahren in sein Herz geschlossen hat, reißt die Hörer auch diesmal zu Begeisterungsstürmen hin. Auch wenn ein Programm geboten wird, das nicht auf Anhieb von Herz zu Herzen geht.

Das betrifft vor allem die Fassung für zwei Klaviere von Igor Strawinskys einstigem Skandalstück Le Sacre du Printemps. Diese vom Komponisten selbst erstellte Version hat mittlerweile Eingang in das Standardrepertoire ambitionierter Klavier-Duos gefunden, und die Frage, wieviel an klanglichem Kolorit und dynamischem Druck durch die Reduktion des extrem raffiniert instrumentierten Orchesterstücks verlorengeht, stellt sich längst nicht mehr. Auch nicht für die Brüder Jussen, die die rhythmische Prägnanz und die melodische Substanz der Ballettmusik ins Zentrum ihrer Interpretation stellen. Auf dynamische Eruptionen und eitle Extravaganzen legen sie keinen Wert. Dafür aber auf eine ausgefeilte, lupenrein exakte Ausarbeitung der diffizilen rhythmischen Strukturen. Dass sich die Brüder offenbar mit telepathischem Einvernehmen verständigen können, erleichtert die Genauigkeit ihrer Darstellung, die die immer noch prickelnde Modernität des Werks durch seine Substanz und nicht durch effektvolle Kraftmeierei spüren lässt.

Etwas verbindlicher geht es im ersten Teil des Programms mit Werken von Sergej Rachmaninow zu. Mit der Auswahl dreier Stücke aus den Six Morceaux (Stücke) op. 11 und der Suite Nr. 2 op. 17 gehen die Blondschöpfe jedem Klischee aus dem Wege, das in Rachmaninow einen virtuosen Tastentiger oder einen plüschigen Salonlöwen sehen will, der er nie gewesen ist. Besonders in den relativ schlichten, möglicherweise deshalb wenig beachteten Morceaux lässt das Duo den feinsinnigen, introvertierten Rachmaninow erklingen. Und diese noblen Tugenden vergessen die Interpreten auch nicht in den temperamentvolleren, virtuoseren Sätzen der bekannteren Suite.

Begeisterter Beifall, auch nach Strawinskys Sacre, für den sich Lucas & Arthur Jussen mit einem relativ einfachen, aber umso ausdrucksstärkeren Choral von Johann Sebastian Bach bedanken.

Foto © Sven Lorenz

Carte Blanche: Das Programm eines Konzerts bis zuletzt geheimzuhalten, kann sich in unserem durchgeplanten, von Managern, Veranstaltern und Publikumserwartungen oft fremdbestimmtem Konzertbetrieb nicht jeder Künstler erlauben. András Schiff, der Grandsigneur der Pianisten-Elite, gönnt sich bei seinem 23. Auftritt im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr diesen auch für ihn außergewöhnlichen Luxus und genießt ihn in der Essener Philharmonie in derart vollen Zügen, dass er den anvisierten Zeitrahmen um gut eine Stunde überzieht.

Mit seiner Erfahrung und seinem riesigen Repertoire ist es gewiss kein Problem, ein Programm spontan zusammenzustellen. Auch wenn man ihm glauben darf, dass er noch am Vormittag an der Werkfolge bastelte, ist natürlich kein zusammenhangloses Ragout aus populären Zugstücken zu erwarten. Die Konzeption des Abends lässt ein Reflektionsniveau erkennen, in dem sich die Erkenntnisse eines langen Reifeprozesses niederschlagen, der durch die pandemische Zwangspause noch eine Vertiefung erfuhr. Da stellt sich ihm lediglich die Frage, mit welchen Stücken aus seinem unerschöpflichen Fundus er seine Gedankengänge umsetzen soll.

Er beschränkt sich auf Werke von Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart, zwei seiner persönlichen Hausgötter, die er in Beziehungen setzt, die selbst für einigermaßen sachkundige Hörer manche verblüffende Überraschung bereithalten. Wofür er im Fall Mozarts nicht ohne Grund auf weniger bekannte Werke zurückgreift, die demonstrieren, wie stark sich Mozart von Bach inspirieren ließ. Sei es durch die Übernahme melodischer Figuren, durch die im Laufe der Jahre immer stärkere und feinere Einbindung kontrapunktischer Techniken oder durch die spirituelle Ausstrahlung der Bachschen Musik.

Vier Paarungen ähnlich gestimmter Stücke Bachs und Mozarts stellt Schiff zusammen, geordnet nach ihren Tonarten. Für das ernst gestimmte c-Moll wählt er das Ricercare aus Bachs Musikalischem Opfer und Mozarts Fantasie in c-Moll aus. Lichtere Töne in barocken Tanzrhythmen schlägt er mit Bachs Französischer Suite in G-Dur und einer Gigue von Mozart an. Bachs Todes-Tonart h-Moll klingt im Wohltemperierten Klavier und in einem Adagio von Mozart an. Und Mozarts besonders originelle Klaviersonate KV 332 und Bachs Italienisches Konzert, das einzig wirklich populäre Werk des Abends, stehen Pate für das lebensbejahende F-Dur.

Selbstredend hört man den Interpretationen Schiffs die intensive und lange Beschäftigung mit diesen Werken und Fragestellungen an. Mit gelassener Überlegenheit, disziplinierter Konzentration und spieltechnischer Brillanz kann sich das Publikum nicht nur an reifen Interpretationen genialer, in den meisten Fällen gar so nicht bekannter Meisterwerke erfreuen, sondern auch an einem Zugewinn an Wissen und Erfahrung. So viel über allseits geläufige Meister lernt man nur selten im Konzert.

Begeisterter Beifall, dem ein frischer, silbrig perlender Vortrag von Mozarts schlichter Sonata facile folgt. Ein im Klavierunterricht oft misshandeltes Werk, das nur scheinbar „facile“, also leicht ist, wenn man die Ansprüche eines András Schiff ernst nimmt.

Pedro Obiera