O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Glaubt ja sowieso keiner

KASSANDRAS FALL
(Christian Freund)

Besuch am
10. März 2023
(Premiere am 3. Februar 2023)

 

Rabbit-Hole-Theater, Essen

Das Rabbit-Hole-Theater füllt den Begriff Künstlerpech mit ganz neuen Inhalten. Dabei war es so schön geplant. Der Guckkasten sollte aufgebrochen, das gesamte Theater zur Bühne werden. Also können die Besucher auch erst pünktlich zu Vorstellungsbeginn das ehemalige Ladenlokal betreten. Konnte oder wollte ja keiner ahnen, dass ausgerechnet an diesem Abend die Temperaturen wieder gegen den Nullpunkt abfallen und Schneeregen jeden Aufenthalt im Freien, also auch vor der Tür des Theaters zu einem sehr unerfreulichen Erlebnis werden lässt. Aber auch die schnell getroffene Absprache mit dem Lokal gleich nebenan läuft ins Leere. Anstatt dort zu warten, schnattern und schimpfen die Besucher lieber vor der Theatertür. Sie wollen schließlich ins Theater und nicht an die Theke. Völlig klar, dass ausgerechnet diese Vorstellung extrem gut verkauft ist, sich also entsprechend viele Menschen am Viehoferplatz versammeln. Und auch die nächste, eigentlich gute Idee sorgt für Murren. Denn die Besucher dürfen nicht einfach zum Vorstellungsbeginn das Theater stürmen, sondern müssen sich der Größe nach in einer Reihe aufstellen. Und da stehen sie nun wie begossene Pudel. Eben Künstlerpech.

Christian Freund mit Nadia Ihjeij und Publikum – Foto © O-Ton

Kassandra ist in der heutigen „Debattenkultur“ ziemlich aus der Mode geraten. Vielleicht, weil es inzwischen viel zu viele gibt, die sich in ihrer Nachfolge wähnen. In der griechischen Mythologie ist sie die Tochter von König Priamos und seiner Frau Hekabe. Ihr Pech ist, dass sie die hübscheste der Kinder des Königspaares ist. Gott Apollon schenkt ihr wegen ihrer Schönheit die Gabe der Weissagung. Als sie allerdings seine Annäherungsversuche zurückweist, verflucht er sie, was zur Folge hat, dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenkt. Und so entsteht der Begriff der Kassandrarufe: Berechtigte Warnungen, die niemand glaubt. Was wäre, wenn es in der Gegenwart nicht nur Figuren gäbe, die sich für eine Kassandra halten, sondern die Königstochter tatsächlich noch einmal die Weltbühne beträte?

Mit dieser Frage hat sich Schauspieler und Autor Christian Freund gemeinsam mit der Darstellerin Nadia Ihjeij beschäftigt. Ihr Ziel scheint gewesen zu sein, möglichst viel Energie zwischen Bühne und Publikum fließen zu lassen. Und das ist gelungen. Die Zuschauer kommen als Zaungäste an eine Baustelle. Das Eingangsareal ist mit Bauzäunen abgesperrt. Überall hängen Malerfolien. Vor der Fensterfront ist die Technik aufgebaut, auf der Dominik Hertrich heute Abend alle Register spielen wird. Dazwischen ist ein schmaler Flur freigehalten, auf dem die beiden Akteure den Abend eröffnen.

Ihjeij irrt als Kassandra hinter den Malerfolien mit einer Taschenlampe herum, offenbar auf der Suche nach der Gegenwart. Im Vordergrund sitzt Freund als Ikarus, ihr Geliebter. Er war in dieser Geschichte Kriegsfotograf, ist jetzt erfolgloser Schreiberling. Zwischen beiden entspinnt sich ein Dialog, in dem Kassandra mögliche, heute unmöglich erscheinende Entwicklungen aufzeigt, während Ikarus im Selbstmitleid verharrt.

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Im zweiten Teil wird die Baustelle dekonstruiert.  Bauzaun und Absperrgitter werden beiseite geräumt, Stühle für die Zuschauer in den Raum gestellt, Getränke an die Zuschauer verteilt. Es bleibt eine Schanze, auf der Kassandra in Zwiesprache mit ihrer nicht antwortenden Mutter tritt. Darin ist Platz, ihre Qual darüber zu äußern, wie sie von der Außenwelt wahrgenommen wird. Währenddessen fährt Hertrich alles auf, was an Theatereffekten möglich ist. Nebel wallt, Stroboskop- und Laserlicht blitzt auf, Musikzuspielungen runden den Klang ab.

Im letzten Teil nimmt Ihjeij am seitlich aufgestellten Klavier Platz, während Freund sich auf der Schanze niederlässt. Was folgt, ist ein Redemarathon von Ikarus, der aufzählt, wogegen man alles sein kann – und manchmal auch, wofür. Bei sich bietender Gelegenheit ergänzt Kassandra. Das Textvolumen, das die beiden auswendig – und ohne Souffleuse – erbringen müssen, wächst damit noch einmal gewaltig. Und damit die Bewunderung für den Lernfleiß und die Rezitationsfähigkeit. Die steht eindeutig im Einklang mit der intensiven Darstellung, die Freund manches Mal hart an die Grenze des overacting, also der im Verhältnis zur Handlung übertriebenen Schauspielerei bringt. Aber eben immer nur an die Grenze.

Nach mehr als einer guten Stunde entflieht Kassandra, das Licht verlischt und absolute Ruhe kehrt ein. Wartet das Publikum noch auf eine Pointe, vermutet einen „falschen Abgang“? Man weiß es nicht, aber gefallen hat es dem schließlich einsetzenden, langanhaltenden Applaus zufolge allen. Es ist dem Ensemble gelungen, Energieströme zwischen Bühne und Publikum fließen zu lassen. Das erlebt man nicht so oft. Deshalb verschwindet hier auch nach dem Schluss niemand einfach. Die Darsteller und ihre Helfer mischen sich „unter das Volk“, und schon bald gibt es noch Vieles zu besprechen. Wer selbst einmal in den Genuss dieser ganz speziellen Atmosphäre kommen möchte, hat dazu am 15. und 16. April die Gelegenheit. Dann bei hoffentlich besserem Wetter.

Michael S. Zerban