Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
HERZOG BLAUBARTS BURG
(Béla Bartók)
Besuch am
27. März 2022
(Premiere am 19. Februar 2022)
Für seine einzige Oper nutzt Béla Bartók das symbolistische Drama Das Schloss des Prinzen Blaubart von Béla Balázs als Libretto. Der weitgehend unverändert übernommene Text variiert den Blaubart-Mythos, der seit Charles Perraults Adaption des Märchens La Barbe-Bleue von 1697 zahlreiche Dramatiker und Komponisten zu immer neuen Fantasien im Umgang mit den Seelenlandschaften des Mannes animiert. Bildlich werden die Mauern vor dieser Innenwelt, die durch die Liebe wie die Forderungen der Frau einer existenziellen Spannung ausgesetzt wird, durch sieben verschlossene Türen in der Burg des Herzogs dargestellt. Eine mehr als willkommene Steilvorlage für jeden Bühnengestalter, der die verschiedenen Geheimnisse im Innenleben der Titelfigur aus einem Nukleus entwickeln kann.
Ganz anders die Bühnenausstattung in der Neuinszenierung des Einakters am Essener Aalto-Theater. Wie so vieles anders ist in einer Adaption, die zwischen romantischer und psychodelischer Anmutung verschlungene Wege geht und doch die Tür der schlüssigen Erkenntnis verfehlt.
Am Theater Bonn ist 1985 in der Ära des Intendanten Jean-Claude Riber Blaubarts Burg in einer gotischen Halle ein Gerüst mit sieben parallel angebrachten Türen und einer auf Farben setzenden Lichtdramaturgie, die die verschlossene Welt dahinter jeweils zum Vorschein bringt. Die Folter- und die Waffenkammer, das Schatzgewölbe, den Garten des Zaubers. Schließlich Blaubarts Herrschaftsgebiet, getränkt von Blut, hinter der fünften und der silbrige Tränensee hinter der sechsten Tür, endend mit der siebten, hinter der die drei früheren Frauen in der Erinnerung des Herzogs leben. In der Inszenierung Paul-Georg Dittrichs für das Theater Essen verzichtet der Bühnen- und Kostümbildner Sebastian Hannak auf das klassische Türen-Paradigma. Leider.
Foto © Karl Forster
Die „Ballade des inneren Lebens“, wie Balázs seinen Text nennt, spielt nun in einer Arena, um die ein durchsichtiger Vorgang gezogen ist. Dieser dient auch meist grau-weißen Videoeinspielungen als Projektionsfläche, für die Kai Wido Meyer tief in die Kiste psychedelischer Verfremdungen gegriffen hat. So etwa bei Salvador Dali. Judith schwebt in fernen Sphären. Eine übergroße Faust umklammert eine Frau, mutmaßlich eine Anspielung auf Blaubart, den Würger. Eine überdimensionale Pupille und ein in Serie gesetztes Augenmotiv illustrieren die Anfangsphase aus dem gesprochenen Prolog der Oper, der via Lautsprecher zu vernehmen ist. „Nun hört das Lied. Ihr schaut, ich schaue euch an. Aufgeschlagen sind die Wimpernvorhänge unserer Augen“.
Die bedeutendste ungarische Oper des 20. Jahrhunderts, komponiert 1911, uraufgeführt 1918 in Budapest unter dem Schatten des Ersten Weltkriegs und des Zusammenbruchs der Habsburg-Dynastie, ist mit ihrer expressiven Motivsprache und der variantenreichen Instrumentation ein Prüfstein der Aufmerksamkeit. Ungeachtet gerade einmal einstündiger Länge ein Konzentrationsverlangen, das von jedem Publikum erst einmal eingelöst werden muss. Das hindert Dittrich allerdings nicht, einen zusätzlichen Unruhepegel einzuführen. Ein transparenter Kubus wird von der Decke auf die Spielfläche gesenkt. Anfänglich spielt darunter ein Mädchen, das ein Kissen zerfetzt, so dass die Federn fliegen. Er kann sich um 45 Grad schrägen, um Judith und Blaubart hereinzulassen. Dann senkt er sich in die Horizontale, um so einen Raum zu symbolisieren, der Judith zum Gefängnis wird. Oder beiden.
Irritation ohne Erkenntnis führende Effekte stiftet Dittrich durch die Einbeziehung von Besuchern, die in herunterhängendem Gestühl den halben Bühnenkreis säumen und den Anschein von Publikumspartizipation erwecken sollen. Die erweist sich aber als Talmi – spätestens am Ende, wenn die Akteure des Marginalen nach der Öffnung der siebten Tür wie im Schülertheater Tischlampen durch die Szene tragen und sich zu einem Kreis der Eingeweihten versammeln. Die Vorstufe dieser Wissenden bilden Statistinnen, die in den Programminformationen als drei unterschiedliche Versionen Judiths geführt werden, was weder eindrucks- noch sinnvoll ist.
Die junge Frau auf ihrem Blaubart-Erlösungstrip ist die eine, die sich verausgabt, verrennt und in der Hölle der totalen Entsagung endet. Nie eine andere, nicht einmal in Blaubarts Vision. „Nacht bleibt es nun ewig, immer“, resigniert Blaubart auf dem Weg in sein Nirwana. Auch eine Neonreklame, die sich aus der Höhe auf die Bühne senkt, hilft da nicht weiter. Weder der Regie noch dem Publikum. Es war einmal, signalisiert die Leuchttafel die klassischen Worte des Märchens. War nicht, lautet die Einschränkung im nächsten Schritt, worauf Judith durch Eliminierung von zwei Buchstaben die Aussage War ich plakatiert.
Foto © Karl Forster
In dieser Arena des Unbestimmten verlegt sich der Regisseur dezidiert auf den Geschlechterkrieg, der dieser Stoff ist, der er aber nicht allein ist. Dittrich lässt seine Protagonisten ein ständiges Ringen miteinander austragen, das in einem physischen Zerren aneinander gipfelt. Balázs hat die traditionelle Vorlage des Märchens in die Moderne weiterentwickelt, in der die Liebe scheitern muss, weil beide Beteiligte die Bedingungen absolut setzen, unter denen sie Nähe wagen und erlauben wollen. Das ist sehr viel mehr als der strapazierte Topos des Geschlechterkampfs. Judith ist die moderne Frau, die ihre Selbstbestimmung in der Annäherung an einen Mann sucht, der zu einem gleichberechtigten Miteinander unfähig ist. Der nur geben, solange er bestimmen kann. Frag‘ mich nichts, singt Blaubart nicht nur einmal. So treffen bei Bartók Blaubart-Legende und Lohengrin-Motiv zusammen. Viel mehr Oper auf einer Stelle ist kaum vorstellbar.
Wer ist Blaubart? Ein Wüstling? Ein Verführer? Ein Mörder? Ein Erotomane und Neurotiker? In Judiths Projektion wohl ein Leidender, der der Liebe bedarf. In der Essener Inszenierung ist Karl-Heinz Lehners Herzog eine Alltagserscheinung. Er agiert in dunkler Hose und weißem Hemd, das über den Hosenbund herausragt. Diesen Eindruck kann auch die aristokratische Montur mit pelzumrandetem Mantel nicht mehr relativieren, die ihn zwischendurch als Herzog adeln will. Schwer verständlich, warum Judith – schon der biblische Name ist Programm – alles hinter sich lässt, um ihm auf Gedeih und Verderben zu folgen.
Aber auch Judith ist in ihrer leuchtend blauen Hose alles andere als eine Sagengestalt. Ziemlich zu Beginn des Spiels trennt sie sich zugunsten eines Bustiers von ihrem Oberteil, als wolle Dittrich so ihre Bereitschaft zeigen, Blaubart den Zugang zu ihrem Inneren zu öffnen. Dieser Ansatz wird jedoch nicht weiterentwickelt. Die Maskerade endet in einer Farce, als zum Schluss nicht nur Judith, sondern auch die Bühnenstatisten einen billigen gelben Mantel, vulgo: Friesennerz, tragen.
Bartóks Partitur ist mit Anleihen am französischen Impressionismus, speziell Claude Debussy, und der Adaption magyarischer Volksmusik ein Wunder an harmonischen Skulpturen und plastischer Bildhaftigkeit. Seinen Landsmann Zoltán Kodaly veranlasst sie, von einem „musikalischen Geysier von sechzig Minuten Dauer“ zu sprechen. Die Musik übernimmt mit Klanggebilden des Unheimlichen, eruptiven Ausbrüchen und häufig wiederkehrenden Motiven den Primat, derweil die beiden Sängerdarsteller die Fabel in einer deklamierenden Tonsprache ausbreiten. Die Oper beginnt und endet in fis-moll. Die zwischen diesen Polen von Tür zu Tür variierenden Klangfarben bringen die Essener Philharmoniker unter der musikalischen Leitung des gebürtigen Ungarn Gábor Káli mit einer hohen Affinität zu den groben Kanten wie den lyrischen Feinheiten der Musikballade zur Geltung.
Lehner, zu Beginn als gesundheitlich indisponiert angekündigt, ist mit seinem Bass voller viriler Kraft und seinem Grundverständnis für Melos und Rhythmus des Ungarischen ein überzeugender Blaubart. Souverän geht auch die niederländische Sopranistin Deirdre Angenent als Judith mit den Sprachanforderungen des Stücks um. Ihr Spiel ist nicht immer im Einklang mit dem jeweiligen Geschehen. Doch versteht sie es, mit ihrer nuancenreichen Stimme den dramatischen Eskapaden wie dem lyrischen Verharren Ausdruck zu verleihen. Dabei fällt die nicht optimale Tessitura Angenents – Bartók verlangt die Besetzung mit einem Mezzosopran – nicht wirklich in die Waagschale.
Das Publikum im nicht einmal zu 20 Prozent besetzten Saal applaudiert begeistert und anhaltend allen Mitwirkenden. Ein Termin an einem Sonntagnachmittag mit strahlendem Sonnenschein bei nachlassenden Corona-Restriktionen ist vermutlich keine glückliche Einladung zu einer Reise in die Abgründe menschlicher Existenz. Zum Glück bietet das Aalto-Musiktheater noch weitere Blaubart-Aufführungstermine im April wie im Mai.
Ralf Siepmann