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DIE GANZE WELT IST HIMMELBLAU
(Diverse Komponisten)
Gesehen am
6. Februar 2021
(Livestream)
Die Essener Philharmonie hat zu einem Operettenabend ins Internet eingeladen und lässt mit dem Titel Die ganze Welt ist himmelblau keinen Zweifel daran, in welche Richtung der Abend geht. Gute Unterhaltung mit dem Best of der Operettenmusik. Gut. Warum nicht? Ist ja auch mal legitim. Zielgruppe ist klar: Älteres Publikum, das sich mit dem Internet nicht auskennt. Ob das noch so stimmt, werden die Essener in den folgenden Tagen selbst an den Zugriffszahlen ablesen können. Denn ganz unberechtigt ist die Vermutung nicht, dass auch viele ältere Herrschaften die Technik im Wohnzimmer aufgerüstet haben und auf Knopfdruck das YouTube-Video auf dem fast leinwandgroßen Fernsehbildschirm genießen können, was ja inzwischen auch um etliches einfacher zu sein scheint, als einen Impftermin über das Internet zu ergattern.
Die Entwicklung findet nicht nur für die Zuschauer rasant statt, auch die Veranstalter kommen ganz schön außer Atem, wenn sie den Anschluss halten wollen. Das Liebhaber-Video unter dem Motto „Hauptsache, man kann was erkennen“ dürfte nur noch eine kleine Schar von eingefleischten Fans interessieren. Der Rest entscheidet, salopp formuliert, zwischen Netflix und YouTube. Und da ist auch durchaus der Video-Dienstanbieter in der Pflicht. Denn es nutzt überhaupt nichts, wenn die Veranstalter teure Profi-Technik an den Start bringen und im Nadelör des Datengeizes landen, der die hochwertig angelieferten Videos wieder runterrechnet. Das wird nicht lange gut gehen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Abend, den die Essener Philharmonie anbietet. Maximilian F. Schmitz hat die technische Leitung und vor allem die Bildregie unter sich. Vom ersten Moment an gefällt eine liebevolle, sachkundige Kameraführung, was noch längst nicht selbstverständlich ist. Da ist der Zoom punktgenau auf den Solisten gesetzt, der Zwischenschnitt auf die unterstützenden Streicher funktioniert taktgenau. Das macht Spaß. Umso ärgerlicher die Tonqualität. Dabei haben sich die Tonmeister Wilfried Venedey und Dennis Drevermann für das schwierige Unterfangen schon Hilfe geholt. Das Institut für Computermusik und Elektronische Medien der Folkwang-Universität der Künste in Essen ist mit im Boot. Und wer die Zahl der Mikrofone sieht, weiß, dass hier keine Laien am Werk waren. Trotzdem kommt beim Zuschauer gefühlt nicht die Hälfte der Qualität an. Man möchte nicht von Klangmatsch reden, aber ein differenzierter, transparenter Klang ist etwas anderes. Da liegt der Verdacht nahe, dass YouTube die Daten herunterrechnet. Ob der Dienstleister damit auf Dauer auskommt, steht in Frage. Denn der Markt von so genannten Influencern, also Beeinflussern, die Parfüm, Intimpflege und Billigmode schönreden, wandert auf andere Plattformen ab, während sich der Markt für hochwertige Veranstaltungen gerade erst zu entwickeln beginnt.
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So müssen die Besucher dieses Abends die Qualität anhand der Bilder erahnen. Und die sind, wie gesagt, ermutigend. Zumal am Pult Ernst Theis von der ersten Sekunde an keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, dass er diesen Abend zu einem grandiosen Erlebnis machen will. Mit großer Geste und vollem, körperlichem Einsatz geht es in die Ouvertüre von Die Dubarry von Karl Millöcker und Theo Mackeben. Und schon unter den ersten schwungvollen Klängen möchte man vor dem Bildschirm ungläubig den Kopf schütteln. Als ob die Orchester-Musiker nicht ohnehin schwierige Arbeitsbedingungen hätten, sitzen die Streicher da tatsächlich mit Masken vor den Gesichtern. Ob die Verantwortlichen sich auch manchmal über Faktenlagen informieren oder nur noch allgemeiner Hysterie folgen? Die Musiker der Neuen Philharmonie Westfalen nehmen das tatsächlich klaglos auf sich. Eine unglaubliche Leistung, so unsinnig und überflüssig sie auch sein mag. Und welch eine Ironie. Da kann man die Musiker eines ganzen Orchesters endlich einmal aus der Nähe sehen, und dann sind sie vermummt.
Nach der selten gespielten Ouvertüre greift Theis zum Mikrofon. Denn er übernimmt auch die Moderation. Wird hier überflüssig an einem zusätzlichen Moderator gespart? Beileibe nicht. Auch wenn der Dirigent zwischenzeitlich zwischen Dirigat und Moderation körperlich überfordert erscheint und an diesem Abend vermutlich mehrere Liter Wasser ausschwitzt, kennt er keine Grenzen. Zunächst einmal begrüßt er die beiden Sänger. Sopranistin Natalie Karl und Bariton Mirko Roschkowski führen sich mit dem Duett der Dubarry und René Es lockt die Nacht aus Die Dubarry ein. Roschkowski, der „Ruhrpott-Pole“, wie er sich selbst spaßhaft nennt, weil er im Ruhrgebiet aufgewachsen ist und irgendwo im Stammbaum polnische Wurzeln hat, von denen ihm der Name geblieben ist, begeistert von der ersten Sekunde an. Für ihn wurden Operetten geschrieben. Er ist einfach zu spät geboren. Karls Einstieg gelingt nicht ganz so uneingeschränkt. Es hapert mit der Textverständlichkeit. Dass der Bariton in der Operette zu Hause ist, beweist er gleich als nächstes mit dem Auftritt Als flotter Geist, dem Auftrittslied des Bárinkay aus dem Zigeunerbaron von Johann Strauß. In der Ouvertüre zu dieser Operette sorgt Theis für schmissige Tempi, forciert mit sichtbarer Freude. Und beim Walzer darf man als Dirigent auch schon mal mittanzen.
Allmählich kann man sich vorbehaltlos auf die Aufführung einlassen. Zumal Theis jetzt auch mal die Vorteile einer Internetübertragung nutzt und die Solisten aus dem Orchester vorstellt, ehe er sich einem politischen Thema widmet. Schließlich ist die Befürchtung nicht ganz unberechtigt, dass es demnächst irgendjemanden geben wird, der eine Umbenennung der Operette Der Zigeunerbaron verlangt, weil der Titel „politisch unkorrekt“ sei. Wohltuend, wie Theis mit Anflügen von Wiener Schmäh in ein solches Ansinnen grätscht.
Höre ich Zigeunergeigen ist das Lied der Mariza aus Gräfin Mariza von Emmerich Kálmán und für den Dirigenten die Antwort auf die Frage, ob es noch Zigeunerschnitzel geben darf. Karl hält sich hier knapp über dem kräftig aufspielenden Orchester, nicht ohne Einbußen in der Betonung in Kauf zu nehmen – auch hier sei noch einmal darauf hingewiesen, dass eine eindeutige Beurteilung der tatsächlichen Situation vor Ort nicht möglich ist. Was hingegen ganz klar wahrzunehmen ist, ist die Begeisterung des Orchesters und des Dirigenten für die Hymne, die gern für Neujahrskonzerte und andere heitere Galas Verwendung findet. Éljen a Magyar – ein Hoch auf Ungarn! – gelingt mehr als schwungvoll, fast schon kämpferisch und beim Schluss kann man sich glatt als ungarischer Patriot fühlen.
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„Die Stunde des Glücks ist da“ ist ein Zitat aus dem Duett der Mariza und Tassilos Mein lieber Schatz aus der Operette Gräfin Mariza, das passend darauf folgt, ehe Theis das Publikum zum Tanz auffordert. Aus der Csárdásfürstin von Kálmán gibt es den wunderbaren Walzer Tanzen möcht‘ ich, der einen dazu verleiten kann, die Sessel und den Wohnzimmertisch beiseite zu rücken, um wirklich ein Tänzchen im Dreivierteltakt zu wagen. Und während sich die Tänzer erschöpft, aber glücklich, auf dem Sofa zurücklehnen, kommt Theis zu einem seiner Lieblingsthemen, den Nationalismus. Vor Franz von Suppés Die schöne Galathée, aus der die Ouvertüre zu hören sein wird, erzählt er noch von den Komponisten, in deren Glanz sich Österreich bis heute als „Musikland“ sonnt. Wunderbar. Und nur so viel sei verraten: Der österreichische Komponist Franz von Suppé, dem nachgesagt wird, dass er der Schöpfer der „Wiener Operette“ war, war gebürtiger Kroate. Das nimmt der Dirigent, der eigentlich aus Siebenbürgen stammt, auch gleich zum Anlass, darauf hinzuweisen, wie sich die Neue Philharmonie Westfalen, ein typisch deutsches Orchester, zusammensetzt. Die Musiker stammen aus 22 Nationen, von denen allein an diesem Abend vierzehn Nationen vertreten sind. Und da bekommt das Werk, dessen Titel den Abend ziert, gleich einen ganz anderen Wert. Die ganze Welt ist himmelblau ist das Duett von Dr. Siedler und Ottilie aus dem Weißen Rössl überschrieben. Die beiden Sänger kommen mit dem nötigen Schwung daher und steigern abermals die Laune. Da fühlt man sich in die Sommerfrische am Wolfgangsee versetzt. Mein Liebeslied muss ein Walzer sein aus der gleichen Operette gelingt Karl sehr gut, ehe ein weiterer Höhepunkt des Abends eintritt.
Von Hans May stammt Ein Lied geht um die Welt, ein Stück, das bis heute Gänsehaut garantiert, vor allem, wenn ein Mirko Roschkowski es vorträgt. „Die Melodie erreicht die Sterne“ lautet eine Zeile, mit der der Sänger das Publikum verzückt.
Die Schmachtfetzen nehmen kein Ende. Herrlich. Meine Lippen, sie küssen so heiß ist der Schlager aus Franz Lehárs Giuditta, den jeder Sopran gern nimmt, weil man damit einfach nichts falsch machen kann. Und mit Freunde, das Leben ist lebenswert aus der gleichen Operette facht Roschkowski das Feuer noch einmal richtig an. Zwei Herzen im Dreivierteltakt von Robert Stolz zünden schließlich das Feuerwerk. Das kann doch nach anderthalb Stunden nicht das Ende sein, nur, weil Theis es verkündet? Nein, natürlich nicht. Der Dirigent unterstellt den fehlenden Applaus und die „Zugabe“-Rufe, die nicht zu hören sind. Allerdings verbindet er die Zugabe von Franz Lehárs Lippen schweigen mit einem Appell, der hörenswert ist. Und sein Schlusswort setzt sich wie eine Nadel unter die Haut. „Je mehr Kultur, desto weniger Feuer auf der Straße“, sagt er.
Das Video wird noch vier Wochen kostenlos on demand zu sehen sein. Und vermutlich wird es auch hier sein wie beim Neusser Neujahrskonzert. Da waren es am Vormittag rund 600 Zuschauer – und am Abend bereits 5.000. Davon dürfte dann auch die Essener Philharmonie bei einer einzigen Aufführung träumen. Dafür, dass die ganze Welt himmelblau ist, lohnt es sich allerdings auch.
Michael S. Zerban