O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Birgit Hupfeld

Aktuelle Aufführungen

Vielleicht gut gemeint

AUFRUHR
(Christine Lang, Volker Lösch, Ulf Schmidt)

Besuch am
7. Januar 2022
(Premiere am 17. Dezember 2021)

 

Schauspiel Essen, Grillo-Theater

So. Nun ist es also so weit. Zum Pflichtprogramm des Theaterbesuchers gehört es neuerdings, sich vor dem Kartenkauf bei der Theaterkasse zu erkundigen, ob die Aufführung auf Deutsch oder im Ideologen-Neusprech stattfindet. Denn bei der Vorankündigung wird er darüber im Dunkeln gelassen. Und wenn man in der Vorstellung sitzt, ist das Geld ausgegeben, merkwürdigerweise, ohne dass man einen Anspruch auf Rückerstattung hat. Eh klar, die im Theater Beschäftigten brauchen sich ja nicht an geltende Sprachregeln in Deutschland zu halten. Sie sitzen in ihrer Blase und lassen sich von Bürgern bezahlen, die in der Mehrheit das so genannte Gendern schlicht ablehnen, weil sie die Gesellschaft nicht in Lager spalten lassen wollen. Also muss man in Zukunft im Vorfeld nachfragen. Eine Nachfrage hätte sich heute Abend auch bezüglich der Aufführungsdauer gelohnt. Aber darauf muss man kommen, dass in diesen Zeiten eine dreistündige Aufführung möglich ist, in der mehr als 100 Menschen auf engem Raum versammelt sind.

Die Strafe folgt auf den Fuß. So ist der Zuschauer verdammt, auf Tonnen mit Drehscheiben Platz zu nehmen, die selbst dem durchtrainierten Körper eine ordentliche Nackenverspannung einhandeln. Und dabei hätten es zwei Stunden auch getan. Denn eigentlich haben sich Christine Lang, Volker Lösch und Ulf Schmidt eine höchst brisante Handlung einfallen lassen. Die wird von Friederike Külpmann in einen interessanten Rahmen gesetzt. Saal und Bühne sind geräumt. An Kopf und Ende des Saals sind Podeste aufgebaut, die Wände sind mit Brettern abgehängt, auf denen sage und schreibe zehn riesige Projektionsflächen entstehen, die zudem mit jeweils eigenem Ton versorgt werden. Der technische Aufwand ist eindrucksvoll. Am Mittelgang sind besagte Tonnen blockweise aufgestellt, so dass sich zahlreiche Auf- und Abgänge eröffnen. In diesem Raum können die Darsteller in typisierten Kostümen, die Teresa Grosser besorgt hat, interagieren, sofern sie nicht in Einspielern auf den Wänden erscheinen. Eine großartige Collage, in der Lösch die Regie im Raum und Lang die im Film besorgt. Hier dürfen sich die Darsteller gleich in doppelter Weise präsentieren, nämlich als Bühnen- und Filmschauspieler. Investorin van Velt entdeckt den Norden Essens als neues Spekulationsobjekt. Viele Stadtteile dort sind nach wie vor vom Bergbau geprägt und über die Jahre kräftig heruntergekommen. Aber: Man kann hier noch preisgünstig mieten. Rasch lässt sich Bürgermeister Kühn von der Idee begeistern, hier eine ganz neue Stadt zu bauen. Mit Bauunternehmerin Haussmann ist auch schnell die Frau ins Boot geholt, die über das technische Know-how verfügt. Deren Tochter Lena riecht allerdings rasch den Braten und warnt vor dem Projekt ihrer Mutter. Es kommt, wie es kommen muss: Die ausgehandelten Sozialbauwohnungen werden gestrichen, Umweltauflagen minimiert und klar ist, dass die derzeitigen Mieter in dem neuen Stadtteil keinen Platz mehr haben. Dagegen setzen sich die Menschen mit Lena an der Spitze zur Wehr. Als die Stadtteile „geräumt“ werden sollen, eskaliert die Situation. Bis hierhin spannend. Das hätte ein großartiger Abend werden können, zumal Lösch und Lang dramaturgisch starke Momente gelingen. In den beiden Pausen lassen die Essener Besucher auch keinen Zweifel daran, wie stark sie das Thema Stadtentwicklung beschäftigt.

Unglücklicherweise passieren zwei Dinge. Hätte man dem Bürgermeister seine „Essener und Essenerinnen“ noch als Satire abnehmen können, müssen die übrigen Darsteller dann auch noch ihre Gender-Geschwurbel-(Un-)Kenntnisse zu Gehör bringen. Traurig genug, dass junge Darsteller den Bildungsbankrott von Schulen und Hochschulen demonstrieren, zumindest wenn es um die deutsche Sprache geht, schlimmer vielleicht, dass sie das nicht einmal reflektieren. Aber um Reflexion geht es an diesem Abend ohnehin am allerwenigsten. Anstatt sich auf das starke Thema in ihrem Stück AufRuhr zu beschränken, kommen die Theatermacher auf die Idee, das Geschehen zu „bereichern“, indem sie echte „Aktivisten“ in Einspielern zu Wort kommen lassen. Und ab hier wird es unerträglich.

Dass Kinder nichts vom Klimawandel verstehen, ist angesichts deutscher Schulbildung verzeihlich. Dass aus Nichtwissen Ängste resultieren, ist keine Neuigkeit. Anstatt aber nun diesen Kindern zu erklären, was es mit dem Klimawandel auf sich hat, und ihnen so ihre Ängste zu nehmen und den Tatendrang zu stärken, sich Maßnahmen zu überlegen, wie man mit dem Klimawandel umgeht und sich darauf einstellt, wird den lieben Kleinen die große Bühne für ihre pubertären Ängste gegeben. Wenn die Medien solche Auftritte veranstalten, mag man das mit der Steigerung der Auflagenzahlen herausreden. Wenn sie auf der Bühne Einzug halten, muss die Frage erlaubt sein, ob das Theater noch einem Bildungsauftrag nachkommt oder sich nur noch der Ideologie verpflichtet fühlt. Der Eindruck verstärkt sich, wenn am Ende des Stücks die Räterepublik ausgerufen wird. Es ist immer gefährlich, wenn Theater Antworten geben wollen, denn das ist ihre Aufgabe nicht. Und Fragen werden an diesem Abend viel zu wenige gestellt.

Die Zuschauer allerdings zeigen sich angesichts des technischen Aufwands und der darstellerischen Auftritte begeistert. Anna Bardavelidze spielt sehr überzeugend die Essensausfahrerin Adile, der die Wohnung genommen wird. Von der Ungläubigkeit, ihre Wohnung verlieren zu können, weil es höhergeordnete kapitalistische Interessen gibt, die ihr das Wohnrecht nehmen, bis zum Schritt in den Widerstand stimmt hier alles. Ebenso wie Rentner Grube, der sich als Stadtführer noch ein paar Euro dazuverdient. Jan Pröhl gibt einen der besten Momente, wenn er von der Geschichte der Roten Ruhrarmee erzählt. Wenige Minuten, die unter die Haut gehen. Trixi Strobel braucht eine Weile, um von der Tochter einer reichen Bauunternehmerin glaubwürdig in den Widerstand zu wechseln. Das ist ein bisschen zu sehr in Hollywood abgeschaut, funktioniert aber letztlich dank ihrer stringenten Darstellung. Ihr Gender-Gequatsche allerdings ist überflüssig und macht damit auch die „YouTube-Videos“ unglaubwürdig bis abschreckend. Dennis Bodenbinder wirkt im Haushalt der Haussmanns noch ein wenig steif, ehe er als Hacker Perry geradezu entfesselt „auf der Straße“ respektive am Computer kämpft. Stefan Migge sollte sich eindeutig für die nächste Oberbürgermeisterwahl in Essen aufstellen lassen. Als OB Kühn hat er den Politikerhabitus bis in den letzten Winkel abgeschaut. Janina Sachau ist die geborene Zynikerin und damit in der Rolle der Investorin van Velt ideal besetzt. Die Bauunternehmerin Haussmann ist eine schwierige Rolle, auch, weil bei ihr ein paar Konflikte zu viel abgeladen werden. Dafür macht Laura Sundermann ihre Sache sehr gut. Philipp Noack schließlich entwickelt den Polizisten Reich vom Erfüllungsgehilfen zum Rechtsextremisten mit Bravour.

Ja, die Zuschauer, die meisten bleiben bis zum Schluss, erheben sich von ihren Sitzen, um den Darstellern und der Technik zu applaudieren. Die Darsteller verbeugen sich nicht. Ist eine Verbeugung politisch jetzt auch nicht mehr korrekt? Immerhin zeigt ein Lächeln, dass sie sich über den Applaus freuen. Es gibt starke Momente in dem Stück. Die Collage aus Film und Darstellung im Raum gehört dazu. Aber inhaltlich wie sprachlich gibt es zu viele Bedenken. Von einem Besuch wird abgeraten.

Michael S. Zerban