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Brahms, der verkappte Opernkomponist

ANTONIO PAPPANO
(Johannes Brahms)

Gesehen am
24. März 2021
(Gastspiel/Live-Stream)

 

Philharmonie Essen

Aus den acht Orchesterkonzerten, die mit Antonio Pappano als „Artist in Residence“ der Essener Philharmonie geplant waren, kann in dieser Spielzeit nicht viel werden. Ganz verzichten musste das Publikum auf den berühmten Opern-Dirigenten dennoch nicht. In der ungewohnten Funktion als Pianist und Kammermusiker präsentiert er mit zwei Mitgliedern des Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia Roma drei Werke von Johannes Brahms. Eine Rolle, die Pappano beileibe nicht als Notlösung verstanden wissen will. Schließlich begann er seine musikalische Laufbahn als Pianist ohne die geringste Absicht, jemals Dirigent zu werden.

Auch wenn er als Chefdirigent der Royal Opera Covent Garden in London und weltweit besonders als Opern-Dirigent gerühmt wird, wäre eine Zuspitzung auf das eine Genre ungerecht. Schließlich behauptet er sich nicht nur mit „seinem“ römischen Orchester der Santa Cecilia nicht weniger erfolgreich auf dem Konzertpodium. Er ist zwar in England geboren und gehört seit mehr als 18 Jahren zu den Zugpferden von Covent Garden: Seine italienischen Wurzeln kann und will er nicht verleugnen. Und das schließt schon eine gewisse Affinität zum Gesang ein.

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Deshalb verwundert es nicht, dass Pappano drei Werke von Brahms ausgewählt hat, die in ihrer Kantabilität vor allem den genialen Liedkomponisten erkennen lassen. Zwei der letzten Werke des Komponisten, die dem Klarinettisten Richard Mühlfeld gewidmet sind, kombiniert er mit der frühen Ersten Cello-Sonate in e-Moll op. 38. Mit zwei erstklassigen Solisten des römischen Orchesters, mit denen Pappano bereits CD eingespielt hat, präsentiert er neben der Cello-Sonate die erste Klarinetten-Sonate op. 120 und das Klarinetten-Trio op. 114. Und zwar mit dem Cellisten Luigi Piovano und dem Klarinettisten Alessandro Carbonare.

Alle drei kosten die warm strömende Melodik der Werke voll aus, sowohl den abgeklärten, introvertierten Ton der späten Kompositionen als auch die überbordende Kantabilität des Kopfsatzes der Cello-Sonate. Weich gespült wird dennoch nichts. Schließlich lässt Brahms in seiner Kammermusik nicht nur den Meister des Liedgesangs erkennen, sondern auch den überragenden Symphoniker. Das schlägt sich bei Pappano vor allem im lebendigen, scharf kontrastierenden Umgang mit dem Themendualismus der Sonatenhauptsätze nieder. Und auch der besonders herausstechende stilistische Bruch in der Cello-Sonate mit ihrem fast arios melodischen Kopfsatz und der strengen, motorisch vorwärtsdrängenden Fuge im Schlusssatz wird nicht überspielt. Wie Pappano in einem Interview bekannte, verhilft ihm die Kammermusik zu einem tieferen Verständnis für die großen symphonischen Werke des Komponisten.

Im Zusammenspiel merkt man allen drei Musikern die gemeinsame Vertrautheit an. Schließlich arbeitet Pappano seit 16 Jahren mit dem römischen Orchester. Beim Vortrag wirkten sie wie befreit, beim Verbeugen vor dem virtuellen Publikum in der trostlos leeren, dezent blau ausgeleuchteten Philharmonie etwas verloren. Wie die meisten Musiker in diesen Pandemiezeiten.

Pedro Obiera