O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Vaudeville lässt grüßen

ABSCHLUSSFEIER
(Dominik Hertrich)

Besuch am
25. Mai 2023
(Uraufführung)

 

Rabbit-Hole-Theater, Essen

Weg da! Gehen Sie weg da!“ kreischt es aus dem ehemaligen Ladenlokal am Viehofer Platz in Essen, vor dem sich eine lange Schlange von Menschen gebildet hat, die nun erst erschrecken, dann aber interessiert versuchen, schon mal einen Blick in das Innere des Rabbit-Hole-Theaters zu erhaschen. Eigentlich sind alle pünktlich erschienen, das Stück soll erst um 20 Uhr beginnen, was ist da los? Weil die Klaviermusik ohne weitere Zwischenrufe fortgesetzt wird, bleiben die Besucher geduldig. Obwohl Dominik Hertrich, Jens Dornheim und Christian Freund, die drei Betreiber des kleinen Theaters, für heute Ungewöhnliches angekündigt haben. Es wird nicht einfach das Stück Abschlussfeier gezeigt, sondern das Pilotstück für eine Fortsetzungsserie. Bis zum 30. November soll ab jetzt an jedem letzten Donnerstag im Monat eine neue Folge von Abschlussfeier gezeigt werden. Keiner der Anwesenden kann sich erinnern, das schon mal von einem anderen Theater gehört zu haben. Also ist die Neugier groß.

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Endlich hat auch der letzte Besucher Platz in dem überdimensionierten Wohnzimmer gefunden, in dem im Zuschauerraum auch noch zwei Betten aufgestellt sind. Die Bühne ist um den Thekenbereich erweitert. Rechts an der Wand steht das alte Klavier. An dem sitzt Raymond Papadopoulos, Inhaber der Systemtheater-Kette McTheater, und improvisiert fröhlich vor sich hin, während auf der Bühne Salamanca Kronenberg tanzt, als ginge es um ihr Leben. Und als sei es das Normalste auf der Welt, dass Tänzerinnen während der Aufführung sprechen, rezitiert sie aus Die Nashörner von Eugène Ionesco, Beim Bau der chinesischen Mauer und Die Verwandlung, um schließlich noch die Kurzprosa Der Steuermann von Franz Kafka aufzuführen. Es soll ihre Abschiedsvorstellung werden, ehe sie mit Wrestling-Legende Rick Maelstrom ins Ausland gehen will, um Elefanten zu streicheln. Ein Wunsch, den Papadopoulos verhindern möchte, weil Salamanca als „beste Schauspielerin der Welt“ sein neues Stück Abschlussfeier präsentieren soll. Tom Markward, „Klimaaktivist“, erscheint erstmalig in einem Theater, weil er eine Geschäftsidee hat, wie man die Umsätze der Theater-Kette ankurbeln kann. Darüber muss er sich mit Mara Böhm-Duvel auseinandersetzen, die die Rechtsgeschäfte des Theaters wahrnimmt. Währenddessen versorgt Tochter Papadopoulos die Gäste mit Getränken, wenn die nicht gerade zur Strafe in der Ecke stehen müssen oder tödlichen Abenteuern ausgesetzt werden.

Es ist so schräg, wie die Geschichte sich anhört. Wer hier an das Vaudeville-Theater des beginnenden 19. Jahrhunderts denkt, wie es sich vor allem in Paris etablierte, kommt der Sache schon ziemlich nahe. Dabei handelte es sich um Stücke mit zumeist alltäglichem Inhalt und lokalen Anspielungen, die gerne frivol, witzig und satirisch daherkamen. Kurze Musiknummern gehörten damals wie heute dazu. Hertrich, der nicht nur mit dem Ensemble die Texte erarbeitet hat, sondern auch für eine schier ungeheure Menge an Personal auf der Bühne sorgt, lässt es herrlich schrill angehen, ohne dem Klamauk zu verfallen. Es wird bestes Theater geboten, erfrischend, schnell, abwechslungs- und überraschungsreich. Und der gehörige Schuss Drama schleicht sich hinterrücks auf die Bühne. Für das nötige Licht dabei sorgt Hertrich selbst, und es scheint, als habe er, was die Technik angeht, noch einmal gehörig aufgerüstet.

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Dabei verfügt er über ein fantastisches Personal, das in seiner Spielfreude alles außer Albernheit zeigt. Allen voran Selina Koenen, die tänzerisch wie deklamatorisch hinreißend ist. Danny-Tristan Bombosch in der Rolle des Raymond Papadopoulos zeigt sich als der schmierige Theaterinhaber, der wahrscheinlich selbst nicht weiß, ob er hier als Geschäftemacher so erfolgreich sein kann, wie es ihm als Künstler verwehrt geblieben ist. Als Klimaaktivist kann Jens Dornheim bis zur Antipathie überzeugen. Raymonds Tochter Bonnie bleibt vorerst noch im Hintergrund, hier darf man gespannt sein, was Christina Binta in den kommenden Folgen noch auf der Pfanne hat. Katina Kamke zeigt sich unterkühlt bis zynisch, an ihr könnte auch eine Domina verlorengehen, wenn sie Jesse Krauß als Zuschauer in die Ecke stellt, was ihr als Rechtsbeistand offenbar zusteht. Gezügelt prollig zeigt sich das Wrestling-Talent Rick Maelstrom, nichtsdestotrotz darf Alexander Kupsch hier auch sein Faible für den Kampfsport anbringen. Es wird herrlich so gekämpft, wie es sich für eine Theaterbühne gehört. Und nein, auch auf Theaterblut wird auf keinen Fall verzichtet, wenn Zuschauerin Claudia Fidorra mit blutüberströmter Hand zu Boden geht, auf der ihr treuer Begleiter, die zum Knuddeln süße, dreibeinige Mischlingshündin Gerda, sich lieber in seine Ecke zurückzieht, weil Frauchen sich ja auch hingelegt hat. Nachdem auch noch festgestellt wurde, dass die Lebensmittelversorgung im Theaterbetrieb gefährlich an ihre Grenzen gerät, ist der Bogen für weitere Folgen aufgespannt.

Bedauerlich an diesem Abend ist, dass der viertelstündige „Vorspann“ zum größten Teil am Publikum vorbeigegangen ist und die folgende Dreiviertelstunde nur so verfliegt. Und während Katja Epstein ihre Theater-Hymne von der Festplatte trällert, wird einem so richtig bewusst, wie schlecht es um das öffentlich-subventionierte Theater längst bestellt ist. Hier am Viehoferplatz pulsiert das echte Bühnenleben, und es ist eine Zumutung, nun vier Wochen auf die nächste Folge warten zu müssen. So etwas würde sich nicht einmal das öffentlich-rechtliche Fernsehen trauen. Aber das darf Theater schließlich: dem Publikum etwas zumuten, vor allem, wenn sich skurrile Typen etwas trauen.

Michael S. Zerban