O-Ton

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Foto © Patrick Berger

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Lautstark entlarvt

À MON BEL AMOUR
(Anne Nguyen)

Besuch am
26. November 2021
(Premiere)

 

PACT Zollverein, Essen

Klingt irgendwie weltläufig, wie eine Erfindung eines neuen Kosmos, der ein noch neueres Lebensgefühl widerspiegelt: Urban Dance – oder auf Deutsch: Städtischer Tanz. Nein, zugegeben, auf Deutsch klingt es nicht ganz so großartig, eher ein wenig bieder. Also bleibt es beim englischen Begriff, den sich derzeit so mancher ganz groß auf die Fahnen schreibt. Hier wird der zeitgenössische Tanz endlich für die Jugend weiterentwickelt, auf diesem Weg erreichen wir die Jugend, können sie begeistern. Ist das so? Noch nie wurde so viel alter Wein in neuen Schläuchen verkauft.

Im Essener PACT Zollverein stellt Anne Nguyen gemeinsam mit ihrer Compagnie Par Terre das Stück À mon bel amour vor. Die acht Tänzer sollen dabei verschiedene Tanzrichtungen unter anderem des Urban Dance verkörpern und sie so in immer neuen Perspektiven einander gegenüberstellen. Die Bühne ist nackt. Es gehört offenbar zum Wesen dieses Tanzes, dass er nur in überlauten, wummernden Beats funktioniert. Je intensiver der Bass, desto begeisterter die Tänzer, scheint es. Jook Prest hat das Prinzip verstanden und heizt mächtig ein. Partyvolk betritt in einer Traube die Bühne. Die gewollt stereotypen Kostüme hat Manon De Colle entworfen. Im spotorientierten Licht von Ydir Acef fällt die Gruppe auseinander, bildet Kreise, innerhalb derer die einzelnen Tanzrichtungen praktiziert werden, ohne allerdings vom Publikum richtig erkannt werden zu können.

Foto © Patrick Berger

Mit den Tanzrichtungen ist das so eine Geschichte. Seit 50 Jahren, also seit den Anfängen von Breakdance und HipHop, werden einzelne Tanzelemente herausgegriffen und mit Namen versehen, die so klingen, als sollten Außenstehende sie nicht verstehen. Da ist das Voguing noch vergleichsweise einfach zu entziffern und entpuppt sich folgerichtig als Imitation der Bewegungen von Models auf den Laufstegen. Aus dem Moonwalk hat sich nicht etwa ein Roboting entwickelt, sondern die ruckhaften Bewegungen nennen die Eingeweihten Popping. Es macht allerdings für den Besucher wenig Sinn, sich damit auseinandersetzen zu wollen, und ist auch ein bisschen nervig, denn morgen lässt ein Tänzer das Popping in Slow Motion ablaufen und benennt es anders. Oder eine Tänzerin lässt ihrer Wut freien Lauf und wirft wild Arme und Beine um sich. Irgendjemand ist dabei und fragt, was ist das? Die Tänzerin nennt es Krumping. Namen sind hilfreich für die Vermarktung, aber sie engen auch ein. Der Voguing-Tänzer kann eben nicht wie die Krumping-Dame wild die Arme um sich werfen, sondern bleibt auf seine tuntigen Bewegungen beschränkt. Was auf der Bühne stattfindet, verdeutlicht es, egal, wie oft Nguyen neue Zweier- oder sonstige Kombinationen herstellt. Das „B-Girl“ kann nicht mit dem Balletttänzer zusammenarbeiten – der hat jahrelang studiert, was er darbietet – sie kann ihn allenfalls nachäffen, das aber im „b-girling-style“. Zusätzliche Einschränkungen erfährt der Urban Dance ausgerechnet in der Tradition des Breakdance, der im „battle“ ausgetragen wird, also im Wettbewerb, um den Begriff der Schlacht hier zu vermeiden. Das verlangt bestimmte Abläufe, aus denen auch Nguyen nicht ausbricht. Und so sieht der Zuschauer immer wieder Pausen, in denen die Tänzer posieren. Die Choreografin sieht auch darin einen Perspektivwechsel, aber das ist doch ein wenig hochgegriffen, wenn die Tänzer sich zum wiederholten Mal an der Rampe in einer Linie aufstellen, um ins Publikum zu stieren.

Nach einem rund einstündigen Show-Act hat man viel Sport und ein wenig Athletik gesehen. Das ist schön und erfreut das Publikum. Im Urban Dance allerdings eine Weiterentwicklung des zeitgenössischen Tanzes in die Moderne zu sehen, erscheint doch mehr als vermessen. Mit dieser Ansicht würde der zeitgenössische Tanz an seine äußerste Oberfläche geführt. Was allerdings im Hinblick auf eine zunehmende Verdummung schon wieder passen könnte. Nein, nein, Urban Dance ist eine schöne sportliche Betätigung, die ja mittlerweile auch gern als olympisch zugelassen werden möchte, mit dem künstlerischen Tanz allerdings hat sie nichts zu tun. Das hat Nguyen in aller Deutlichkeit gezeigt. Aus der Gegenüberstellung von Ballett und Urban Dance an diesem Abend mag man gar eine Warnung herauslesen: Der zeitgenössische Tanz setzt sich mit Körper und Geist auseinander, der Urban Dance liebt die sportliche Betätigung mit Effekt. Wer versucht, die beiden Publika miteinander zu vermischen, wird gnadenlos scheitern.

Michael S. Zerban