Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
2023: GYÖRGI LIGETI ZUM 100.
(Diverse Komponisten)
Besuch am
13. Juni 2023
(Einmalige Aufführung)
Spricht man von einem Liederabend, werden damit in der Regel Konzerte assoziiert, deren Programme ausschließlich aus Kunstliedern bestehen. Es gilt als schick, wenn solche aus dem 19. Jahrhundert etwa aus den Federn von Franz Schubert, Robert Schumann oder Hugo Wolf vorkommen. Da gehen die Leute hin. Wenn sie dann auch noch Sänger mit Rang und Namen interpretieren, sind die Konzertsäle rappelvoll. Das Klavier-Festival Ruhr hat solche Events regelmäßig mit im Angebot. Doch es betritt hin und wieder auch andere Wege, die sich lohnen. Im Zusammenhang mit einem seiner diesjährigen Schwerpunkte, der auf dem 100. Geburtstag des österreichisch-ungarischen Komponisten György Ligeti liegt, lädt es zu einem solchen ausgefallenen Gesangsabend in das Haus Fuhr im Essener Stadtteil Werden ein, bei dem jeder neugierige Musikfreund voll auf seine Kosten kommt. Für viel Kurzweil sorgen Sopranistin Sarah Maria Sun, Pianist Jan Philip Schulze und Klarinettist Kilian Herold.
Gut, zwei Nummern von Franz Schubert als Eröffnung und Abschluss des Abends sind mit dabei. Doch finden sich Der Hirt auf dem Felsen und Abschied von der Erde sehr selten auf Programmen. Denn beim ersten Lied kommt eine Klarinette vor. Und beim zweiten wird nicht gesungen, sondern der Text lediglich rezitiert. Die anderen Gesangsstücke des Abends stammen ausschließlich aus dem letzten Jahrhundert und werden ebenfalls selten beziehungsweise so gut wie gar nicht in klassischen Konzerten aufgeführt. Den Rahmen bilden gefällige Stücke allseits bekannter Komponisten, die in die Bereiche sowohl der ernsten als auch der unterhaltenden Musik eingeordnet werden können. Die Ballade The Man I Love von George und Ira Gershwin wurde ursprünglich für das satirische Musical Lady, Be Good aus dem Jahr 1924 geschrieben, doch mangels Akzeptanz wieder herausgenommen und als Einzelstück publiziert. Benjamin Britten schrieb im Jahr 1940 vier eingängige Cabaret Songs mit den Titeln Tell me the truth about love, Funeral Blues, Johnny und Calypso. Leonard Bernstein schuf 1952 die dem Musical nahe Oper Trouble in Tahiti, aus der die Nummer What a movie präsentiert wird.
Einige dieser Melodien sind zu Gassenhauern geworden. Auch wird der 1945 geborene, griechische Komponist Georges Aperghis nicht außer Acht gelassen Le rire physiologique, anno 1982 geschrieben, ist ein humoristisch-satirisches, doppelbödiges Stück voller Witz und pointierter Schärfe. Der Text ist ein Sketch des belgischen Komikers Raymond Devos. Es geht um das Lachen in allen Variationen, die vom kurzen hahaha bis hin zur virtuosen Konzertarie reichen.
Foto © Peter Wieler
Im Mittelpunkt steht das Geburtstagskind Ligeti mit Kompositionen aus zwei seiner unterschiedlichen Schaffensperioden. Mysteries of the Macabre sind Arrangements von drei Koloraturarien aus seiner Anti-Oper Le Grand Macabre, 1978 zum ersten Mal erklungen und nach einer Überarbeitung 1996 in einer endgültigen Fassung uraufgeführt. Darin geht es um den Tod, der in dem imaginären Breughelland das Ende der Welt verkündet. Die drei Arien wurden 1992 von Elgar Howarth als Konzertversion für Kammerorchester veröffentlicht. Eine neue Version für Sopran, Klavier und Klarinette stammt von Jan Philip Schulze, die an diesem Abend aus der Taufe gehoben wird. Die Texte sind eines tiefen Sinns enthoben. Derbe Szenen, alberne Witze, Sprache, extreme Koloraturen wie auch Slapstick und kabarettartige Passagen kommen darin vor. Außerdem gibt es zehn Lieder aus seiner frühen Zeit, als er noch in Ungarn lebte und wie Béla Bartók die Volksmusik erkundete. Eins davon, Erinnerung, erklingt heute sogar erstmalig. Der Grund für solch eine späte Premiere liegt darin, dass viele seiner frühen Kompositionen damals nur im ungarischen Rundfunk gespielt wurden und wieder verschwanden oder einfach liegengeblieben sind. Nach und nach kommen sie wieder zum Vorschein und werden verlegt. Weitere Erstaufführungen werden sicher in Zukunft folgen. Die hier vorgestellten kurzen Werken aus den 1950-er Jahren, die also vor seiner Ausreise in den Westen entstanden, sind Beispiele seiner leicht begreiflichen Musiksprache volkstümlichen Charakters, die nicht anecken und von der Zensur in der damaligen stalinistischen Ära locker durchgewunken wurden. Er schrieb zwar auch für ihn wichtigere, gehaltvollere Stücke, steckte sie aber in die Schublade.
Es handelt sich also um ein buntes Programm, das eine große Palette an stimmlichen Ausdrucksformen voraussetzt. Sarah Maria Sun, die als Spezialistin auf dem Gebiet moderner Musik gilt, verfügt über eine solch große Bandbreite und wird ihrem guten Ruf voll gerecht. Gekonnt changiert sie in allen Registern zwischen klassisch-lyrischer, mit einigen Koloraturen gespickter Gesangstechnik, kleinen Obertongesängen, kokettem Parlando oder witzigen Rezitationen. Dann wiederum kichert, stöhnt oder schluchzt sie an passenden Stellen. Gespickt sind ihre Darbietungen mit manch kabarettistischen Einlagen. Ihr laszives Räkeln oder Tanzen auf dem Flügel kommt richtig gut an. Ein kongenialer Partner ist ihr Pianist Schulze, der es ebenfalls faustdick hinter den Ohren hat. Er begleitet sie nicht nur mitatmend sensibel, sondern ist sich auch für manche zum Schmunzeln anregende Gags und kleine stimmliche Einlagen nicht zu Schade. Dritter im Bunde ist Kilian Herold, der bei manchen Nummern an Klarinette und Bassklarinette mit einer variabel-singenden, feinen Tongebung brilliert.
Dass bei Gesangsabenden nicht immer ernste Töne im Vordergrund stehen müssen, sie auch sehr humorvoll-unterhaltsam sein können – sogar mit Werken seriöser moderner Komponisten – kann an diesem entspannten Abend erlebt werden. Sehr begeistert zeigt sich das Publikum davon. Für den verdienten frenetischen Beifall bedanken sich Sun und Schulze mit In Short aus dem Liederzyklus Edges von Benji Pasek und Justin Paul aus dem Jahr 2005. Doch damit nicht genug. Der Beifall will nicht enden. Also gibt es als zweite Zugabe I don’t understand the poor aus der 2013 entstandenen Musikkomödie Gentlemen’s Guide to Love and Murder mit Musik von Steven Lutvak und Texten Robert L. Freedmans. Erst danach werden die Musiker von der Bühne entlassen.
Hartmut Sassenhausen